Der vierzehnte Stein
Tonsur, die er würde verbergen müssen, bis das Haar nachgewachsen war.
Sechs Wochen Aufschub, eine gewaltige Spanne Freiheit, die Brézillon ihm da zugestanden hatte, aber zu schmal wiederum, um den Teufel oder gar seinen eigenen Dämon zu jagen.
Ihn aus seinen alten Behausungen vertreiben, hatte Mordent gesagt, seine Dachböden entrümpeln, ihm die Schlupflöcher versperren, die alten Koffer und die knarrenden Schränke des Gespenstes fest zudrücken. Das hieß, er mußte das Loch füllen, das in seinen Nachforschungen zwischen dem Tod des Richters und dem Schiltigheimer Mord klaffte. Das würde ihm zwar kaum dabei helfen, seinen neuen Unterschlupf ausfindig zu machen, doch vielleicht suchte der Richter ja von Zeit zu Zeit seine alten Dachböden auf?
Beim Abendessen mit Clémentine und Josette vor dem Kamin warf er die Frage auf. Er erwartete von Clémentine nicht, daß sie ihm fachliche Ratschläge erteilte, doch es entspannte ihn, wenn die alte Frau ihm zuhörte, und stärkte ihn vielleicht durch eine Art Kapillareffekt.
»Sind die denn wichtig?« fragte Josette mit ihrem flackrigen Stimmchen. »Diese Unterkünfte? Diese ehemaligen Wohnorte?«
»Das glaube ich schon«, sagte Clémentine an Adamsbergs Stelle. »Er muß doch wissen, wo das Monster überall gelebt hat. Die Pilzgründe sind immer dieselben, so was ändert sich nicht.«
»Aber sind sie wichtig?« wiederholte Josette. »Für den Kommissar?«
»Er ist kein Kommissar mehr«, unterbrach Clémentine sie. »Deswegen ist er doch hier, Josette, das erklärt er doch die ganze Zeit.«
»Eine Frage von Leben und Tod«, sagte Adamsberg und lächelte der zarten Josette zu. »Entweder er oder ich.«
»So schlimm?«
»So schlimm. Und ich kann doch nicht im ganzen Land auf gut Glück nach ihm suchen.«
Resolut servierte Clémentine Grießkuchen mit Rosinen, mit der doppelten Pflichtportion für Adamsberg.
»Wenn ich’s recht verstehe, können Sie Ihre Leute also nicht mehr auf den Fall ansetzen?« fragte Josette schüchtern.
»Wenn ich’s dir doch sage, er ist nichts mehr«, sagte Clémentine. »Er hat keine Leute mehr. Er ist ganz allein.«
»Ich habe noch zwei inoffizielle Mitarbeiter. Aber ich kann ihnen keinen Auftrag erteilen, meine Handlungen sind in allen Richtungen blockiert.«
Josette schien nachzudenken und baute dabei aus ihrem Kuchen ein Häuschen.
»Nun, Josette«, sagte Clémentine, »wenn du eine Idee hast, sollten wir sie nicht verkommen lassen. Unser Jungchen hier hat nur sechs Wochen.«
»Kann man ihm vertrauen?« fragte Josette.
»Er ißt an unserem Tisch. Stell nicht so dumme Fragen.«
»Nun ja«, erwiderte Josette, immer noch damit befaßt, ihr wankendes Grießgebäude zu errichten, »Sich-Bewegen und Sich-Bewegen ist ja zweierlei. Wenn der Kommissar festsitzt, und wenn’s eine Frage auf Leben und Tod ist …«
Sie brach ab.
»Das ist Josette«, erklärte Clémentine. »Überbleibsel ihrer Erziehung, da kann man nichts machen. Die Reichen, die reden, wie sie laufen, immer schön vorsichtig. Die machen sich in die Hosen vor Angst. Na, nu biste ja arm, Josette, nu kannste reden.«
»Man kann sich auch anders fortbewegen als mit seinen Beinen«, sagte Josette. »Das meinte ich. Auch schneller und weiter.«
»Wie denn?« fragte Adamsberg sie.
»Mit der Tastatur. Wenn es zum Beispiel darum geht, Wohnungen zu finden, können Sie übers Netz gehen.«
»Ich weiß, Josette«, erwiderte Adamsberg freundlich.
»Übers Internet. Aber die Wohnungen, nach denen ich suche, stehen der Öffentlichkeit nicht zur Verfügung. Sie sind versteckt, geheim, unterirdisch.«
»Ja«, Josette zögerte, »aber ich meinte ja auch das verborgene Netz. Das Geheimnetz.«
Adamsberg schwieg, unsicher, ob er Josettes Worte auch wirklich verstand. Clémentine nutzte dies, um ihm ein Glas Wein einzugießen.
»Nein, Clémentine. Seit jenem Besäufnis trinke ich nicht mehr.«
»Hören Sie mal, Sie werden mir doch nicht obendrein noch mit ’ner Allergie kommen? Ein Glas bei Tisch ist Pflicht.«
Und Clémentine goß ein. Josette beklopfte die schiefen Wände ihres Grießhauses und steckte Rosinen für die Fenster hinein.
»Das Geheimnetz, Josette?« fragte Adamsberg behutsam. »Dorthin also reisen Sie?«
»Josette geht über ihre verborgnen Kanäle, wohin sie will«, erklärte Clémentine. »Bisweil’n ist sie in Hamburg, bisweil’n in New York.«
»Datenplünderei?« fragte Adamsberg überrascht. »Hacker?«
»Hexerin, genau«, bestätigte
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