Der vierzehnte Stein
Samstagmorgen um zehn.
»Kommissar Denis Lamproie«, meldete sich Adamsberg. »Pariser Mordbrigade.«
Die Ärzte, vertraut mit Autopsie- und Bestattungsproblemen, reagierten in der Regel gelassen, wenn ein Bulle von der Brigade criminelle anrief.
»Worum handelt es sich?« fragte Doktor Courtin in gleichgültigem Ton.
»Vor zwei Jahren, am 17. August, haben Sie zwanzig Kilometer von Schiltigheim entfernt einen Patienten behandelt, in einem Anwesen, genannt Das Schloß.«
»Wenn ich Sie gleich mal unterbrechen darf, Kommissar. Ich erinnere mich nicht an die Kranken, die ich untersuche. Es kommt vor, daß ich zwanzig solcher Einsätze am Tag habe, und ich sehe meine Patienten nur sehr selten wieder.«
»Aber dieser Mann war Opfer von sieben Wespenstichen geworden. Er litt an einer allergischen Schwellung, die mit zwei Injektionen behandelt wurde, die eine am frühen Nachmittag und eine weitere nach zwanzig Uhr.«
»Ja, an den Fall erinnere ich mich, weil es nur selten vorkommt, daß Wespen im Schwarm angreifen. Ich war um den alten Herrn ziemlich besorgt. Er lebte allein, verstehen Sie. Doch er wollte nicht, daß ich ein zweites Mal käme, starrköpfig wie ein Esel. Am Ende meiner Tour habe ich trotzdem noch einmal vorbeigeschaut. Er mußte mir wohl oder übel öffnen, denn er hatte noch immer große Schwierigkeiten beim Atmen.«
»Könnten Sie ihn mir beschreiben, Doktor?«
»Schwierig. Ich sehe Hunderte von Gesichtern. So ein alter Kerl, groß, mit weißen Haaren, benahm sich reserviert, glaube ich. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen, sein Gesicht war bis hinauf zu den Wangen durch das Ödem deformiert.«
»Ich würde Ihnen gern ein paar Fotos zeigen.«
»Ehrlich, das wäre reine Zeitverschwendung, Kommissar. Bis auf den Wespenangriff habe ich nur noch sehr vage Erinnerungen.«
Am frühen Nachmittag machte sich Adamsberg mit den Porträts des gealterten Richters eilig zur Gare de l’Est auf. Noch einmal nach Straßburg. Um sein Gesicht und die Tonsur zu verbergen, hatte er die kanadische Schapka aufgesetzt, die Basile ihm gekauft hatte und die viel zu warm für das neuerlich milde Atlantikwetter war. Der Arzt würde es sicher seltsam finden, daß er sich weigerte, sie abzusetzen. Courtin war ohnehin nicht angetan von dieser unfreiwilligen Konsultation, und Adamsberg spürte, daß er ihm sein Wochenende verdarb.
Die beiden Männer hatten am Ende eines vollgestellten Tisches Platz genommen. Courtin war noch recht jung, unfreundlich und schon ein wenig feist. Der Alte mit den Wespenstichen interessierte ihn nicht, er stellte keine Fragen über die Gründe der Recherche. Adamsberg legte die Porträts des Richters vor ihn hin.
»Die Alterung und das Ödem sind künstlich erzeugte«, sagte er, um den eigentümlichen Anblick der Fotos zu erklären. »Erinnert Sie der Mann an irgend etwas?«
»Kommissar«, fragte der Arzt, »möchten Sie nicht erst einmal ablegen?«
»Doch«, sagte Adamsberg, der unter seiner Polarmütze zu zerfließen begann. »Allerdings hab ich mir in einer Zelle Läuse eingefangen, und mein halber Schädel ist kahlrasiert.«
»Komische Art, Sie zu behandeln«, bemerkte der Arzt, nachdem Adamsberg seinen Kopf entblößt hatte. »Warum ist denn nicht alles abrasiert worden?«
»Ein Freund hat das gemacht, ein ehemaliger Mönch. Das erklärt es vielleicht.«
»Ah, so«, meinte der Arzt etwas ratlos.
Nach einigem Zögern kam er auf die Fotografien zurück.
»Das hier«, sagte er nach einem kurzen Moment und tippte auf eine Aufnahme des Richters, auf der er im linken Profil zu sehen war. »Das ist mein Alter mit den Wespen.«
»Sie sagten, Sie würden sich nur noch vage an ihn erinnern.«
»An ihn, aber nicht an sein Ohr. Ärzte behalten die Anomalien besser im Gedächtnis als die Gesichter selbst. Ich erinnere mich genau an sein linkes Ohr.«
»Was war denn damit?« fragte Adamsberg und beugte sich über das Foto.
»Diese Krümmung hier. Dem Typ sind in seiner Kindheit mit Sicherheit die abstehenden Ohren operativ angelegt worden. Damals gelang solch ein Eingriff nicht immer. Bei ihm war wildes Knorpelfleisch an der Narbe entstanden und hatte den äußeren Rand der Ohrmuschel verformt.«
Die Fotos stammten aus der Zeit, als der Richter noch im Amt war. Damals trug er kurzes Haar, und seine Ohren lagen frei. Adamsberg hatte den Richter erst nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst und mit längerer Frisur kennengelernt.
»Ich mußte die Haare beiseite schieben, um die Größe des
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