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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Ödems zu untersuchen«, präzisierte Courtin. »Auf diese Weise habe ich die Mißbildung bemerkt. Was das übrige Gesicht angeht, so ist es derselbe Typ von Mann.«
    »Sind Sie sicher, Doktor?«
    »Sicher bin ich, daß dieses linke Ohr operiert wurde und schlecht vernarbt ist. Und sicher, daß das rechte keinerlei Verletzung erlitten hatte, genau wie auf den Fotos. Ich habe es aus reiner Neugier untersucht. Aber er ist gewiß nicht der einzige Mensch in Frankreich mit einem lädierten linken Ohr. Verstehen Sie? Wiederum kommt so ein Fall auch nicht sehr häufig vor. Für gewöhnlich reagieren beide Ohren in gleicher Weise auf die Operation. Es ist selten, daß die Narbe wie hier auf einer Seite verknorpelt und auf der anderen nicht. Sagen wir, es trifft zumindest auf das zu, was ich bei diesem Maxime Leclerc beobachtet habe. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«
    »Zu dieser Zeit muß der Mann siebenundneunzig Jahre alt gewesen sein. Ein richtiger Greis also. Würde das auch zutreffen?«
    Der Arzt schüttelte ungläubig den Kopf.
    »Unmöglich. Mein Patient war nicht älter als fünfundachtzig.«
    »Sicher?« fragte Adamsberg überrascht.
    »Absolut, was diesen Punkt betrifft. Wenn der Alte siebenundneunzig Jahre alt gewesen wäre, hätte ich ihn nicht mit sieben Wespenstichen im Hals allein zurückgelassen. Ich hätte ihn sofort in ein Krankenhaus eingewiesen.«
    »Maxime Leclerc wurde 1904 geboren«, beharrte Adamsberg. »Er war seit über dreißig Jahren im Ruhestand.«
    »Nein«, wiederholte der Arzt. »Ich bin mir sicher. Ziehen Sie fünfzehn Jahre ab.«
     
    Adamsberg mied das Münster, aus Furcht, Nessie würde japsend im Portal auftauchen, in das sie sich ldiotischerweise mit dem Drachen hineingezwängt hatte, oder der Fisch aus dem Pinksee könnte durch ein Fenster oben im Kirchenschiff schlüpfen.
    Er blieb stehen und legte die Hand über die Augen. Blatt für Blatt an den schattigen Stellen hochheben, hatte Clémentine gemeint, wenn er die Pilze der Wahrheit finden wolle. Im Moment war es dieses verknorpelte Ohr, dem er Schritt für Schritt folgen mußte. Ein wenig pilzförmig, in der Tat. Er mußte wachsam bleiben, mußte alles tun, damit die bleiernen Wolken seiner Gedanken nicht den Lauf seiner schmalen Straße verdunkelten. Aber die Entschiedenheit, mit der sich der Arzt über Maxime Leclerc geäußert hatte, verwirrte ihn. Dasselbe Ohr, doch nicht dasselbe Alter. Allerdings schätzte Doktor Courtin das Alter von Menschen und nicht von Gespenstern.
    Akkurat, akkurat und nochmals akkurat. Adamsberg ballte die Fäuste bei der Erinnerung an den Surintendant und stieg in den Zug. An der Gare de l’Est wußte er genau, wen er anrufen mußte, um diesem Ohr auf die Schliche zu kommen.

46
     
    Um mit gutem Beispiel voranzugehen, stand der Pfarrer seines Dorfes stets mit den Hühnern auf, wie Adamsbergs Mutter zu sagen pflegte. Adamsberg wartete, bis es auf seinen Uhren halb neun war, um den Priester anzurufen, der, so rechnete er aus, inzwischen über Achtzig sein mußte. Der Mann hatte immer eine gewisse Ähnlichkeit mit einem großen Hund gehabt, der auf der Lauer lag, und er konnte nur hoffen, daß er diese Stellung beibehalten hatte. Pfarrer Grégoire sog Unmengen nutzloser Details in sich auf, begeistert von der Vielfalt, mit der der Herr die Welt gesegnet hatte. Er meldete sich bei ihm mit seinem Nachnamen.
    »Welcher Adamsberg?« fragte der Pfarrer.
    »Der mit deinen alten Büchern. Welcher Schnitter eines ewgen Sommers ließ im Weggehn jene goldne Sichel fallen.«
    »Liegen, Jean-Baptiste, liegen«, berichtigte der Pfarrer, ohne daß ihn der Anruf zu überraschen schien.
    »Fallen.«
    »Liegen.«
    »Ist auch nicht weiter wichtig, Grégoire. Ich brauche dich. Habe ich dich auch nicht geweckt?«
    »Ach was, ich stehe mit den Hühnern auf. Und im Alter, du weißt ja. Gib mir eine Minute, ich werde’s gleich mal überprüfen. Jetzt bin ich doch ins Zweifeln gekommen.«
    Adamsberg blieb mit dem Telefon in der Hand verunsichert zurück. War Grégoire nicht mehr in der Lage, eine drängende Angelegenheit herauszuhören? Im Dorf war er dafür bekannt, daß er jede noch so kleine Sorge bei seinen Gemeindemitgliedern sofort bemerkte. Vor Pfarrer Grégoire konnte man nichts verbergen.
    »Fallen. Du hast recht, Jean-Baptiste«, sagte der Pfarrer enttäuscht, als er wieder am Telefon war. »Im Alter, du weißt ja.«
    »Grégoire, erinnerst du dich an den Richter? An den Allmächtigen?«
    »Immer noch der?« sagte

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