Der viktorianische Vibrator: Törichte bis tödliche Erfindungen aus dem Zeitalter der Technik (German Edition)
bedeutete sie für den bessergestellten Teil der Gesellschaft eine wahre Explosion der Möglichkeiten.
Es gab Phasen, da war es, als würde es Erfindungen und Entdeckungen regnen: Die Städte und Häuser veränderten sich, neue Hilfs-und Elektrogeräte, Transport-und Kommunikationsmittel hielten Einzug und ließen die Welt gefühlt schrumpfen. Ingenieure entwickelten Apparaturen, die versprachen, das Leben besser, gesünder und länger zu machen. Die Wissenschaft kam mit der Veröffentlichung ihrer Erkenntnisse kaum noch nach und erschütterte alte Weltbilder. Darwins Evolutionstheorie schließlich stellte das göttliche Prinzip selbst in Frage – und wies dem Menschen einen neuen Platz in der Schöpfung zu: Ein Wesen, das so viel kann, das sogar die Natur seiner Selbst entschlüsselt, dem schien nun alles möglich! Es ist kein Zufall, dass Literaten ausgerechnet in der zweiten, »viktorianischen« Hälfte des 19. Jahrhunderts die Science-Fiction zum populären literarischen Genre machten.
Dementsprechend vermittelt uns auch Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887 , so der Titel der deutschen Übersetzung von Bellamys Bestseller, zwei Botschaften:
So, wie es heute ist, ist es wirklich schlecht.
Alles, aber auch absolut und ausnahmslos alles macht der sozialistische wie technologische Fortschritt besser.
Und Bellamys Liste der Verbesserungen ist lang! Natürlich beendet ihm zufolge der Sozialismus nicht nur jede Armut und jeden Klassenunterschied, sondern auch jede Habsucht. Es ist eine kultivierte, zufriedene Welt, die er sich erträumt, in der den Menschen alle Möglichkeiten offenstehen. Noch immer häufig zitiert wird das Buch aber auch deshalb, weil Bellamy zahlreiche technologische Möglichkeiten erdachte, von denen viele irgendwann verwirklicht werden sollten. So darf er sich etwa als Erfinder der Kreditkarte (tatsächlich eingeführt erst 1924) und der elektronischen Zahlungsabwicklung rühmen (schrittweise eingeführt ab 1960, vernetzt und flächendeckend in Verwendung ab Ende der 1970er Jahre).
Bellamy dachte sich aber noch weit mehr aus. Hier ist eine der Schlüsselszenen, die damals nicht nur die Leserschaft faszinierte, sondern auch zahlreiche Tüftler und Geschäftsleute inspirieren sollte:
Wie Edith (Anm.: So heißt sein weibliches Gegenüber praktischerweise auch in der Zukunft) es versprochen hatte, begleitete mich Dr. Leete, als ich mich zurückzog, in mein Schlafzimmer, um mir den Gebrauch des musikalischen Telefons zu zeigen. Er belehrte mich, wie durch Drehen einer Schraube die Musik mein Zimmer füllen oder zu einem Echo verhallen konnte, so schwach und fern, dass man nicht wusste, ob man es wirklich hörte oder ob es nur Einbildung war. ( …)
»Ich würde Ihnen ernstlich raten, Mr. West, heute Nacht lieber zu schlafen, als die schönste Musik der Welt zu hören«, sagte der Doktor, nachdem er mir alles erklärt hatte. »Bei diesen anstrengenden Erfahrungen, die Sie eben machen, gewährt Schlaf eine Nervenstärkung, für die es keinen Ersatz gibt.«
Eingedenk dessen, was mir an demselben Morgen begegnet war, versprach ich, seinen Rat zu befolgen.
»Das ist recht«, sagte er, »so will ich das Telefon auf acht Uhr stellen.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte ich.
Er erklärte mir, dass mittels eines Uhrwerkes jemand es einrichten könnte, zu beliebiger Stunde durch Musik geweckt zu werden.
Wir Kinder des 21. Jahrhunderts erkennen unschwer die heute höchst profanen Funktionen von Radio und Radiowecker – für die man heutzutage eine App hat. Damals aber muss das wahrhaft beeindruckende Science-Fiction gewesen sein, wenn man bedenkt, wie oft die Musikszene aus dem Bellamy-Buch zitiert worden ist. Noch 40 Jahre später wurde sie in Zeitungsartikeln über Erfindungen erwähnt, die sich an Bellamys Musikvisionen messen lassen mussten.
Das Bemerkenswerte daran ist, dass Bellamy die Vision eines reinen Luxusguts schilderte. Wie mehr als 100 Jahre später auch, schienen vor allem die technologischen Visionen die Menschen in Bann zu ziehen, die ihnen das Leben in irgendeiner Hinsicht versüßen würden, und eben nicht die wirklich ambitionierten. Edgar Allen Poe, Jules Verne und andere hatten Menschen literarisch auf den Mond geschickt, Bellamy schickte sie ins Musikzimmer oder weckte sie mit lieblichen Klängen. Das eine war ein gewaltiges Abenteuer, das andere war attraktiv für jedermann.
Schon bevor Dr. Leete seinen Gast ins Bettchen brachte, hatte uns Bellamy in den Worten
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