Der viktorianische Vibrator: Törichte bis tödliche Erfindungen aus dem Zeitalter der Technik (German Edition)
verweigerte dieser das mit der Begründung, er habe den ganzen Kram verloren. Der Nachmieter hieß natürlich Alexander Graham Bell. In Meuccis Werkstatt begann er die Arbeit an seinem eigenen Sprechapparat.
Manchmal sollte man sich die Helden der Technikgeschichte also nicht zu genau ansehen, »geguttenbergt« wurde schon immer. Am Ansehen des Technologie-Heroen Graham Bell mag man in Amerika auch heute noch nicht kratzen. Immerhin aber erkannte der US-Kongress postum die Verdienste des 1889 völlig verarmt gestorbenen Erfinders Antonio Meucci bei der Erfindung des Bell-Telefons an und ehrte ihn somit nachträglich – im Jahr 2002.
Antonio Meucci, der vergessene Telefon-Entwickler
Neue Industrien verändern die Welt
Bells frühe Telefone waren dabei so weit davon entfernt, wirklich alltagstauglich zu sein, wie es wohl auch Meuccis Exemplare gewesen wären. Man musste stets sehr genau hinhören, um etwas zu verstehen. Selbst die von der wunderbaren neuen Erfindung überaus begeisterten Zeitgenossen nahmen die Sprachqualität als deutlich verbesserungsfähig wahr. Entsprechend schleppend lief die Verbreitung an, um die sich Bell höchstpersönlich mit aller Macht bemühte: Sein Patent sorgte dafür, dass er sämtliche Konkurrenz-Konzepte per Gericht aus dem Markt kicken konnte (er führte mehr als 600 entsprechende Prozesse). Wer – wie beispielsweise Alva Edison, der zu dieser Zeit auf so ziemlich jedem Gewinn versprechenden Markt mitmischte – in den aufkeimenden Telefonmarkt einsteigen wollte, musste Lizenzgebühren an Bell zahlen. Die von ihm gegründete, erst nach ihm benannte und sehr viel später in »AT&T« umbenannte Firma beherrschte den Markt zeitweilig fast monopolhaft und ist noch heute das zweitgrößte Telefonunternehmen der Welt.
Einmal mehr bewies Alva Edison, warum er als einer der kreativsten Technologie-Entwickler in die Geschichte einging. Er nahm sich das Bell-Telefon vor und ließ es auf seine Schwächen untersuchen. Die größte davon war das Mikrofon. Edison entwickelte ein eigenes, das er bereits 1877 zum Patent anmeldete: Sein Kohlegrießmikrofon war den Bell-Lösungen nicht nur in Sachen Sprachqualität weit überlegen, die zugrundeliegende Technologie konnte auch als Relais zur Verstärkung von Telefonsignalen eingesetzt werden – erst das machte Telefongespräche über längere Distanzen möglich.
Bell hatte fast zeitgleich ein vergleichbares Patent aufgekauft, in den Folgejahren bemühten die beiden deshalb ausgiebig die Gerichte. Dass Edison als Sieger aus diesem Patentstreit hervorging, machte die beiden am Ende zu Partnern: Bells kommerzielle Serienmodelle kombinierten fortan die Techniken der beiden Firmen, und Edison wurde zum Mit-Profiteur an Bells Erfolg, statt Lizenzgebühren zu zahlen. Die Grundkonstruktion dieses so entstandenen Apparates sollte bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts das Standardtelefon bleiben.
Bell und Edison begannen also, sich den US-Markt aufzuteilen, während die meisten von Bells früheren Konkurrenten ihre Kreativität in neue Konzepte steckten. Elisha Gray, der vor seinem am Patentamt gescheiterten Telefon-Abenteuer mit Elektrogeräten gehandelt hatte, erfand beispielsweise im Jahr 1887 den Teleautografen, den frühesten Vorläufer einer Fax-Maschine, die Handschriftliches über Telegrafenleitungen übertragen konnte. Grays Firma vermarktete solche Geräte rund 100 Jahre, bevor sie schließlich vom Großunternehmen Xerox (welches 1938 den Fotokopierer erfand) geschluckt wurde.
Doch der Weg zu kommerziellen Erfolgen mit der neuen Telekommunikation war höchst mühselig. Die zunehmend industrialisierte westliche Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts nutzte mit großer Selbstverständlichkeit so unterschiedliche Fernübertragungstechniken wie Telegrafen und Brieftauben. Es war eine Zeit ungeahnt rapider Veränderungen: Von einem Jahr zum anderen konnten sich die Grundbedingungen vieler Dinge völlig verwandeln. Es war gleichzeitig aber auch eine Übergangszeit, in der ausgefuchste neue Technologien neben jahrhundertealten Praktiken zum Alltag gehörten. Die Lebensstile der Menschen hätte man zur gleichen Zeit am gleichen Ort teilweise unterschiedlichen Jahrhunderten zuordnen können. Grundsätzlich ging der sich immer weiter beschleunigende Fortschritt jedoch an niemandem vorbei.
In der Rückschau sehen wir viel klarer, was dieser Generation noch bevorstand: Innerhalb von 30 Jahren sollte sie nicht nur eine Revolution der
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