Der Visionist
offen. Niemand war im Verkaufsraum. Braunes Packpapier und ein Stück Schnur lagen auf dem Boden. Stimmen und der Geruch von Klebstoff und Sägespänen drangen von hinten aus der Werkstatt nach vorn.
Lucian zog die Glock aus dem Schulterholster.
Im Gang herrschte Dunkelheit. Am Ende leuchtete eine Lampe, die die beiden Menschen dort in ein warmes gelbes Licht hüllte. Emeline stand an einem großen Holztisch und legte Beispielecken für Rahmen auf die Ecken eines Gemäldes. Sie probierte verschiedene Stile und Größen aus. Der Kunde stand neben ihr und blickte ihr dabei über die Schulter.
Alles schien ganz normal – die beiden wählten einen passenden Rahmen für das Bild aus. Doch der neue Kunde hielt einen Revolver in der rechten Hand. Emeline konnte die Waffe nicht sehen, aber Lucian sah sie.
„Fallen lassen!“ Lucian nahm die Schussstellung ein, seine Glock war genau auf die Brust des Eindringlings gerichtet. Er konnte sein Ziel nicht verpassen.
Charlie Danzinger packte Emeline um die Taille, riss sie wie ein Schutzschild vor sich und drückte ihr den Revolver an die Schläfe. Seine Bewegungen waren schnell und so fließend, als hätte er mit einem Gegner gerechnet. Lucian kam es fast so vor, als wäre der Restaurator des Metropolitan Museums of Art froh, dass er gekommen war. Die Hand mit der Waffe zitterte ein wenig, aber Danzinger sah nicht aus, als habe er Angst. Im Gegenteil, der Mann lächelte wie ein Geistesgestörter. Das verrückte Lächeln machte Lucian mehr Angst als alles andere. Mit jemandem, der nicht mehr rational dachte, konnte man nicht vernünftig verhandeln.
„Warum lassen Sie sie nicht gehen, und wir beide machen das miteinander aus?“
Danzinger hatte genau in diesem Raum schon einmal gemordet. Es war lange her, aber er wirkte nicht, als könne er die Tat nicht wiederholen. Er schüttelte den Kopf. „Geht nicht.“ Blitzartig wie bei einer Eidechse schnellte seine Zunge aus dem Mund, und er fuhr sich über die Lippen.
Lucian hatte einen galligen Geschmack im Mund. „Warum geht es nicht?“
„Sie ist eine Zeugin.“
„Eine Zeugin?“
„Sie hat es gesehen. Sie weiß alles. Sie hat es gesehen, sie weiß es.“
„Was weiß sie?“
„Ich habe für Andre Jacobs gearbeitet. Er war wie ein Vater für mich. Ich war ganz allein in der Stadt, noch ganz am Anfang. Nichts wird passieren, hat er gesagt. Er war wie ein Vater für mich. Aber sie war hier. Sie war hier …“ Seine Stimme bebte, als ob er gleich in Tränen ausbrechen würde. „Ich wollte nie jemandem wehtun. Nie. Hab’s nie jemandem gesagt. Aber sie weiß es …“ Er deutete mit dem Kinn auf Emeline. „Wenn sie es jemandem sagt, dann … Dann muss ich ins Gefängnis. Und ich kann nicht ins Gefängnis. Ich muss bei meiner Arbeit sein. Meine Arbeit ist wichtig. Ich restauriere wertvolle Dinge.“
Emeline rührte sich nicht. Sie sah aus, als wäre sie selbst ein Bild und kein lebendiger Mensch.
Danzinger fuhr sich wieder über die Lippen.
„Sie glauben doch nicht im Ernst all dieses Gerede über Reinkarnation, oder?“, fragte Lucian ihn. „Das ist nur Quatsch, den die Zeitungen abdrucken, damit sie mehr verkaufen. So etwas wie Reinkarnation gibt es nicht. Diese Frau hier hat keine Ahnung, wer Sie sind. Sie hat gelogen, weil sie Mitleid erwecken wollte. Aber sie ist keine wiederauferstandene Reinkarnation. Sie weiß nichts.“
„Ich kann nicht ins Gefängnis. Ich muss bei meiner Arbeit bleiben.“
„Charlie, sie weiß nichts. Sagen Sie es ihm, Emeline. Sagen Sie ihm, warum Sie über die Reinkarnation gelogen haben.“
Die goldene L-förmige Bilderecke blitzte auf, als Emeline ihren Arm hochbrachte und die Ecke in das Gesicht des Mannes rammte. Der scharfe Winkel traf direkt in sein rechtes Auge. Danzinger ließ sie los und schlug vor Schmerz die eine Hand auf das verletzte Auge. Er hörte nicht mehr auf zu brüllen. Der lang gezogene, qualvolle Schrei dröhnte Lucian in den Ohren, als er dem Restaurator die Waffe aus der Hand schlug und ihn zu Boden rang. Er legte ihm Handschellen an und drückte ihm das Knie in den Rücken, damit er nicht aufstehen konnte. Das Blut des Mannes rann aus der Wunde und bildete eine immer größer werdende Lache auf dem Dielenboden.
Erst um 9.30 Uhr hatte die Polizei endlich alle Anwesenden verhört, die Spuren gesichert und den Tatort wieder freigegeben. Als sie weg waren, schloss Lucian die vordere Ladentür ab und holte eine Flasche Scotch aus der Werkstatt und zwei
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