Summer Sisters
1
Am letzten Schultag ging der Unterricht nur bis Mittag. Morgen würde zwar der gesamte achte Jahrgang bei der Abschlussfeier noch einmal die Turnhalle füllen, aber die dauerte nur eine Stunde und alle waren mit ihren Eltern und Familien da. Das nächste Klassenzimmer, das Ama betreten würde, wäre das auf der Highschool.
Alles ändert sich , dachte sie.
Sonst fuhr sie immer mit dem Bus nach Hause, aber heute war ihr aus irgendeinem Grund nach Laufen zumute. Sie war nicht sentimental. Sie hatte Pläne und blickte nach vorn, so wie ihre ältere Schwester. Aber es war mittags, sie hatte nichts Bestimmtes vor und sie schleppte auch nicht ihre üblichen zehn Kilo an Schulbüchern, Ordnern und Heften mit sich herum. Heute war ihr danach, noch einmal die vertraute Strecke zu gehen, die sie so oft gegangen war, als sie noch jünger gewesen war und es nie eilig gehabt hatte.
Während sie so dahinschlenderte, musste sie unwillkürlich an Polly und Jo denken, und als sie die beiden weiter vorn an der Ampel warten sah, war ihr fast, als hätte sie sie aus ihrer Erinnerung heraufbeschworen.
Ama wunderte sich, dass Polly und Jo zusammen waren. Aus der Ferne wirkte es so selbstverständlich - aber Ama wusste, dass es das nicht war.
Die beiden waren bestimmt nicht gemeinsam von der
Schule losgegangen. Jo zog nach dem Unterricht meistens mit ihren laut plappernden Freundinnen ins Tastee Diner oder in das Café an der Ecke. Polly blieb für sich, brauchte immer endlos lange zum Zusammenpacken ihrer Sachen und ging oft erst noch in die Bibliothek, bevor sie sich schließlich auf den Heimweg machte. Manchmal traf Ama sie dort und dann setzten sie sich aus alter Gewohnheit nebeneinander. Aber im Gegensatz zu Ama erledigte Polly dort nicht ihre Hausaufgaben, sondern kam, um zu lesen. Polly verschlang alle Bücher, die in den Regalen standen - nur nicht die, die sie für die Schule lesen sollten.
Als Ama näher kam, fiel ihr wieder einmal auf, wie sehr Jo sich seit der Grundschule verändert hatte. Sie hatte keine Zahnspange und auch keine Brille mehr, und sie trug immer sklavisch alles, was gerade angesagt war, wie heute die karierten Shorts in Pastell und die Haare zu zwei Zöpfen geflochten. Polly sah in ihrer unter dem Knie abgeschnittenen Jeans und der dunklen Baseballkappe dagegen immer noch so aus wie früher.
»Hey, Ama!«
Polly hatte sie als Erste entdeckt und winkte ihr aufgeregt zu.
Im selben Moment schaltete die Ampel um, und Ama beeilte sich, um zusammen mit den beiden die Straße zu überqueren.
»Ich fass es einfach nicht, dass du hier bist«, sagte Polly und sah von Ama zu Jo. »Ein wahrhaft historischer Augenblick.«
»Warum, ist doch ihr Nachhauseweg«, entgegnete Jo, die anscheinend nichts Besonderes daran finden wollte, dass sie ausgerechnet an diesem Tag zusammen nach Hause gingen.
Ama wusste, wie Jo zumute war. Die Geschichte ihrer Freundschaft war wie ein leise brodelnder Teich, der von dünnem Eis bedeckt war, und sie wollte das Eis nicht aufbrechen.
Während sie nebeneinanderher gingen, redeten sie über die Abschlussprüfungen und das Programm der morgigen Feier. Als sie am 7-Eleven vorbeikamen, sagte keine etwas, und auch nicht, als sie sich der alten Abzweigung näherten.
Und wenn wir abbiegen würden?, überlegte Ama plötzlich. Wenn sie wie früher den Hügel hinunterrennen und am Spielplatz vorbei in den Wald laufen würden, um nach den Bäumchen zu sehen, die sie damals gepflanzt hatten? Wenn sie sich an den Händen nehmen und so schnell laufen würden, wie sie nur konnten?
Doch sie gingen an der Abzweigung vorbei und blickten nach vorn. Nur Polly schien einen Moment lang zurückzuschauen.
Aber selbst wenn sie abgebogen wären, würde es nicht mehr dasselbe sein. Das wusste Ama.
Das quietschende Drehkarussell war mittlerweile verrostet, die Schaukel verlassen. Vielleicht waren die Bäume gar nicht mehr da. Es war so lange her, dass sie sich um sie gekümmert hatten.
Ama sah sich selbst, wie sie damals mit ihren beiden besten Freundinnen ausgelassen und selig den Hügel hinuntergerannt war.
Alles hatte sich verändert. Die Menschen änderten sich und die Orte auch. Sie würden bald auf die Highschool gehen. Jetzt sollte man nicht zurückschauen. Ama konnte sich die Bäume nicht mal mehr vorstellen. Sie wusste nicht mal mehr, wie der Hügel überhaupt hieß.
Polly
Wenn ich an den ersten Tag unserer Freundschaft denke, dann sehe ich uns drei mit unseren Rucksäcken auf
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