Der Visionist
Vergangenheit? Jemand, dessen Geschichte Iris Bellmer und er noch nicht entdeckt hatten? Es war nicht mehr wichtig. Doch Lucian fragte sich, wen er wohl sehen würde, wenn er Andre Jacobs in die Augen blickte – oder Emeline? Würde er dort den Geist von Solange sehen können?
War er wieder genau da, wo er am Anfang gestanden hatte? Hatte er beim ersten Mal versagt und diese Seelen nicht schützen können? War gestern Nacht seine zweite Chance gewesen?
Nein. So dachte nur ein Verrückter. Aber er war ein rationales Wesen, und sein Verstand sagte ihm, dass es kein Vorher gegeben hatte, nur das Jetzt. Solanges Seele lebte nicht in Emeline weiter. Sie hatte sich diese Geschichte nur ausgedacht. Auch die Geschichte von ihrem Stalker war eine Lüge. Sie hatte sie erfunden, um Lucian zu täuschen; sie hatte verhindern wollen, dass der schicksalhafte Fehltritt ihres Vaters entdeckt wurde. Lucian sollte abgelenkt werden, damit er nicht auf die offensichtliche Lösung des Rätsels stieß, das ihn die ganzen Jahre gequält hatte.
Wer war verantwortlich für den Diebstahl des Matisse gewesen? Nun wusste es Lucian. Jacobs selbst war es gewesen. Er hatte jemanden angeheuert, der in seine Werkstatt einbrechen und das Bild stehlen sollte. Jacobs hatte alles genauestens geplant, nur den Zufall hatte er nicht einplanen können – die Möglichkeit, dass der Junge, mit dem sich seine Tochter verabredet hatte, zu spät kommen würde.
Lucian warf einen Blick auf die Uhr. Es war sieben Minuten nach acht. Er nahm das Telefon und wählte die Durchwahl von Eric Broderick. Der Chief war immer schon frühim Polizeipräsidium.
„Da war ja ganz schön was los gestern Nacht! Ich habe es gerade in der Zeitung gelesen“, sagte Broderick. „Geht es Ihnen gut?“
„Mir geht’s blendend“, erwiderte Lucian, obwohl seine Stimme verriet, wie erschöpft er war. „Hören Sie, ich wollte Ihnen Bescheid geben, dass Sie den Personenschutz für Emeline Jacobs abblasen und dem Steuerzahler ein paar Dollar ersparen können.“
Broderick hatte einige Fragen, und Lucian erstattete ihm zehn Minuten lang Bericht, wobei er ihm alle notwendigen Informationen gab, aber nichts, was über die angeblichen Droh-E-Mails hinausging.
Um 8.20 Uhr rief Lucian bei der Kanzlei an, die die Phoenix Foundation vertrat. Der zuständige Anwalt war noch nicht da. Lucian füllte ein paar Formulare aus und versuchte noch zweimal, den Anwalt zu erreichen. Um 8.59 Uhr bekam er ihn endlich an den Apparat und redete zwanzig Minuten lang mit ihm. Danach wusste er, was ihm noch gefehlt hatte. Als Nächstes rief er Nina Keyes an, die ihm mitteilte, dass es ihrer Enkelin erstaunlich gut gehe. „Es kommt mir fast so vor, als hätte sie diese schreckliche Geiselnahme von ihren Albträumen geheilt“, sagte sie.
Punkt 9.30 Uhr betrat Lucian das Büro seines Vorgesetzten. Matt Richmond und Elgin Barindra saßen schon am verschrammten Konferenztisch. Die Stimmung war bedrückt. Hypnos war noch in der Nacht zurück zum Met gebracht worden, und der Leiter der Ständigen Vertretung des Irans bei der UNO, Farid Taghinia, war festgenommen worden. Er wurde wegen etlicher Straftatbestände in mehr als fünf furchtbaren Verbrechen angeklagt. Doch ein Mann war ums Leben gekommen, und niemand am Tisch konnte sich richtig über ihren Erfolg freuen. Lucian hatte Taghinia die Waffe aus der Hand geschossen, doch er war wenige Sekunden zu spät gewesen. AliSamimi war noch auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben.
Sie hatten eine Menge zu besprechen. Nachdem sie über zwei Stunden lang die Geiselnahme im Museum und die darauf folgenden Ereignisse rekapituliert hatten, wandten sie sich Elgin zu. Er hatte seinen Bericht darüber herumgeschickt, was am Tag zuvor in der Phoenix Foundation geschehen war.
„Dr. Talmage hat mich gestern Abend angerufen.“ Elgin klang fast enttäuscht. „Sie sagte, dass sie mir kündigen müsste.“
„Hat sie genauer erklärt, was eigentlich passiert ist?“, wollte Comley wissen.
„Dr. Samuels sei für einen längeren Zeitraum krankgeschrieben, und es wäre sinnlos, wenn ich ohne ihn im Archiv weiterarbeite. Mehr hat sie nicht gesagt. Ich habe nachgefragt, aber sie war nicht sehr mitteilsam.“
„Das macht nichts. Wir haben das Gespräch zwischen Dr. Talmage und Dr. Samuels auf den Überwachungsbändern“, murmelte Lucian. Sein schwarzes Notizbuch lag offen vor ihm, und er zeichnete das kleine Mädchen, das gestern Abend unter den Geiseln gewesen war.
„Wann
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