Der Vollstrecker
die Erste in ihrer Familie gewesen, die aufs College ging.
Shauna wusste, dass ihre Brüder in kriminelle Aktivitäten verwickelt gewesen waren, sie wusste bloà nicht genau, wie sehr. Es ist so gut wie unmöglich, in einer Stadt wie L. A. in einem sozialen Brennpunktviertel aufzuwachsen und von der Gang-Kultur unbeeinflusst zu bleiben, die vielerorts die StraÃen beherrscht. Und für Afroamerikaner war es noch schwerer als für WeiÃe. Nie würde sie den Abend vergessen, an dem zwei Cops vor der Tür gestanden hatten, um ihren Eltern die schlimmste aller Nachrichten zu überbringen: Ihre drei Brüder waren in einem gestohlenen Wagen niedergeschossen worden, alles deutete auf den Vergeltungsschlag einer rivalisierenden Gang hin.
Das war kurz nach ihrem neunzehnten Geburtstag.
Shauna hängte ihren Traum vom College an den Nagel und trat wenige Monate später, nachdem sie alle Einstellungstests mit Bravour bestanden hatte, ins LAPD ein.
Die sechs Monate hartes Training, die folgten, machten ihr nichts aus, und Shauna schloss die Ausbildung als Jahrgangsbeste ab. Ihr erklärtes Ziel war es, entweder Detective zu werden oder es ins SWAT-Team zu schaffen.
Shauna war der West Bureau Pacific Division zugeteilt und einem erfahrenen, zwölf Jahre älteren Officer als Partnerin an die Seite gestellt worden. Sie hatte die Polizeiakademie erst vor fünf Monaten abgeschlossen, aber sie verfügte über eine schnelle Auffassungsgabe, war sehr intelligent und engagiert, daher hatte ihr Lieutenant befunden, dass es an der Zeit war, Shauna probeweise allein auf Streife zu schicken. Als ihr Partner sich am Morgen krankgemeldet hatte, war dies die ideale Gelegenheit gewesen.
Shauna bekam einen Funkspruch von der Zentrale herein: Eine Gruppe Jugendlicher randaliere in der Nähe von Marina del Rey, nur ein paar Blocks von ihrem derzeitigen Aufenthaltsort entfernt. Die angebliche Randale erwies sich als harmlose Spielerei einiger angetrunkener Kids, die auf dem Gelände einer verlassenen Baustelle Dampf ablieÃen. Shauna gelang es, die Situation schnell und sauber zu entschärfen. Als sie zu ihrem Streifenwagen zurückging, fiel ihr ein schwarzer Cadillac ins Auge, der halb hinter einer Bauruine verborgen stand. Sie erinnerte sich an die Fahndungsausschreibung, die tags zuvor die Runde gemacht hatte. Darin wurde ein schwarzer Cadillac Escalade gesucht, den ein Autoverkäufer in West Hollywood zu einer Probefahrt mitgenommen hatte, von der er nie zurückgekehrt war. Sie überprüfte die Einzelheiten auf ihrem Bordcomputer â das Kennzeichen stimmte.
Shauna funkte die Zentrale an und bat um nähere Informationen. Ihr wurde mitgeteilt, dass der Autoverkäufer, ein Afroamerikaner namens Darnell Douglas, den Wagen für eine kurze Probefahrt mit einem Kunden ausgeliehen hatte. Ãber Letzteren lagen keine Informationen vor. Eine Gefahrenwarnung war nicht ausgegeben worden. Shauna meldete der Zentrale, dass sie sich das Fahrzeug genauer ansehen werde.
Die Karosserie des Cadillac war unversehrt â keine Dellen, keine Kratzer. In einen Unfall schien er also nicht verwickelt worden zu sein. Sämtliche Türen waren verriegelt. Mit der Taschenlampe leuchtete Shauna durch die getönten Scheiben ins Wageninnere â auch dort war nichts Verdächtiges zu sehen. Der Cadillac war auf einer zementierten Fläche abgestellt worden, um das Fahrzeug herum gab es keine FuÃspuren.
Shauna rief erneut die Zentrale an und meldete, dass sie die Bauruine inspizieren würde, um nachzusehen, ob Darnell Douglas oder der Käufer eventuell im Gebäude waren und Hilfe brauchten. Falls sie etwas fand, würde sie sich umgehend melden.
Der erste Raum, den sie betrat, war groà und voller Bauschutt. Die Luft stank nach Urin.
»Hallo?«, rief sie mit lauter, fester Stimme. »Ist hier jemand?«
Kein Laut. Eine dicke, einstmals durchsichtige, aber mit der Zeit stumpf gewordene Plastikplane diente als Türersatz. Shauna schob sie mit ihrer Taschenlampe beiseite und betrat den nächsten Raum.
»Darnell, sind Sie hier irgendwo? LAPD. Brauchen Sie Hilfe?«
Nichts regte sich.
Vorsichtig ging Shauna weiter. Je tiefer sie in das verlassene Haus vordrang, desto dunkler wurde es, desto schaler wurde die Luft. Ein weiterer leerer Raum, dann noch einer und noch einer. Es war vollkommen still, aber ihr Instinkt sagte ihr, dass etwas nicht stimmte. Sie
Weitere Kostenlose Bücher