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Der Vormacher

Der Vormacher

Titel: Der Vormacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand Decker
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wüsste. Dass Linda sich mir zu Füßen wirft, hat viel mehr mit ihrer eigenen Blindheit zu tun. Wie Jana. So sind die Frauen: Sie machen sich ein Bild von einem, und egal, wie man sich anstrengt, nie sehen sie etwas anderes in einem als nur dieses Bild, das sie sehen wollen.
    Der Chef scheint meine Ablehnung zu bemerken.
    »Entschuldigen Sie, Hiller, ich will mich nicht in Ihre Privatsachen einmischen.«
    Er steht auf und geht zum Fenster. Er sieht alt aus, alt und ein wenig krumm. Von der gefährlich aufrechten Chefhaltung ist nichts mehr übrig.
    »Ich habe alles falsch gemacht, Hiller«, sagt er leise. »Alles.«
    »Hm«, mache ich zustimmend.
    »Sie haben keine Kinder, Hiller«, fährt er fort.
    »Nein«, sage ich.
    »Ich auch nicht.«
    Er dreht sich um.
    »Machen Sie welche«, sagt er etwas linkisch.
    Der Chef hat ein Rad ab, ich habe es immer gewusst.
    »Kinder«, fügt er hinzu, »machen Sie Kinder. Das ist das Einzige, was sich lohnt. Die Gene weitergeben. Das Überleben sichern. Linda ist ein fruchtbares, junges Ding. Machen Sie los, Hiller, machen Sie eine große Hillerfamilie.«
    Ich will einwenden, dass Jana noch nicht tot ist, aber ich lasse es sein. Der Chef redet vor sich hin, als ob er getrunken hätte. Dabei trinkt der Chef keinen Alkohol, nicht einmal auf der Weihnachtsfeier.
    »Ach«, seufzt er. »Hiller, wie gefällt Ihnen Ihr Beruf?«
    »Na ja –«
    »Es ist der unnötigste, schädlichste und dümmste Beruf der Welt«, fährt er fort. »Die Leute bringen uns ihre Scheiße, damit wir eine Schleife darum binden und den Leuten einreden, dass sie die Scheiße wollen … mehr noch, dass sie die Scheiße brauchen, dass sie ohne die Scheiße keine vollwertigen Menschen sind.«
    So ähnlich sagt Jana das auch immer.
    »Wenn wir die Leute dann mit grinsenden Promis, bescheuerten Slogans und leeren Versprechungen so weit haben, dass sie die Scheiße kaufen, kommt die Konkurrenz und gibt uns Geld, damit wir die Leute überzeugen, dass die Scheiße, die sie gerade gekauft haben, die Scheiße von gestern ist, und dass sie neue Scheiße kaufen müssen, schnellere Scheiße, breitere Scheiße, sparsamere Scheiße, Scheiße mit einem Touchscreen und zwanzig neuen Scheißfunktionen, obwohl die alte Scheiße noch gar nicht abbezahlt ist. Wir manipulieren die Gesellschaft, damit sie die Scheiße frisst, von der sie viel zu viel produziert. Eigentlich sind wir Auftragslügner.«
    »Immerhin halten wir die Wirtschaft am Laufen«, tröste ich, »und damit erhalten wir Arbeitsplätze.«
    »Arbeitsplätze, ja«, nickt der Chef. »Weil wir den Leuten beigebracht haben, dass sie nichts wert sind, wenn sie ihre Zeit nicht mit irgendeiner sinnlosen Arbeit vertun. Wer hat heute noch echte Arbeit? Die Banker schieben Geld hin und her, die Beamten füllen Formulare aus, die Angestellten hocken vor ihren Computern und tröpfeln Kaffee in die Tastatur …«
    »Die Bäcker?«, schlage ich vor.
    »Die Bäcker schütten Backmischungen in ihre Backformen«, erklärt der Chef. »Und sie arbeiten in Backshops. Backshops! Das muss man sich mal vorstellen. Und wir machen Werbung für so was. Die Pflanzer-Backshops, das war unsere größte Erfolgsgeschichte. Wir haben einen Baum ins Logo gebastelt und einen Spot in einer Museumsmühle gedreht. Die Leute dachten plötzlich, Pflanzer verwende nur Biogetreide. Dabei ist es das widerlichste Fabrikgebäck, das man sich vorstellen kann. Ach, die Leute sind so dumm.«
    Das ist ein Standardsatz vom Chef. Normalerweise sagt er es mit einem zufriedenen Grinsen, aber heute wird es zum Stoßseufzer.
    »Wissen Sie was, Hiller? Das Leben hat keinen Sinn. Und deshalb« – er zeigt mir dem Finger auf mich –, »deshalb bewundere ich Sie.«
    »Mich?« Ich bin verdutzt.
    Er nickt.
    »Sie machen es richtig«, sagt er.
    Ich mache große Augen.
    »Ja, Hiller«, sagt er halb ernst, halb scherzend. »Sie wissen, wie man richtig lebt. Sie sind erleuchtet. Helfen Sie mir.«
    »Also – ich weiß nicht, Chef.«
    »Hiller, jetzt tun Sie nicht so. Ihre Frau liegt schwerkrank im Krankenhaus. Ihre Arbeit ist mittelmäßig. Sie sind erfolglos und unansehnlich. Na ja, hässlich würde ich nicht sagen, aber es laufen Tausende da draußen herum wie Sie; nehmen Sie es mir nicht übel, Sie haben ein absolutes Durchschnittsgesicht. Trotzdem vögeln Sie wie ein Weltmeister. Erst Theodora – bei der sind Sie sogar eingezogen, wie ich gehört habe! –, und jetzt lassen Sie sich, während der Arbeitszeit, von meiner

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