Der Vormacher
Als ich sie verlasse, bleibt der Geruch unserer Umarmung in meiner Erinnerung haften. Komisch. Warum war es früher so schwierig mit Jana? Eigentlich mache ich alles richtig. Nur habe ich das bis jetzt noch nie bemerkt. Zum ersten Mal fällt mir der bewundernde Blick der Schwestern auf – was für ein liebevoller Mann, werden sie denken, der seine kranke Frau so oft besucht. Im Nachhinein habe ich das Gefühl, dass auch die Ärzte viel lieber mit mir reden als mit Jana oder gar mit ihrer Mutter. Jana hört ihnen nie richtig zu, und ihre Mutter meckert immer nur – sie hat im Internet alles Mögliche nachgelesen und weiß alles besser.
Bei der Arbeit ist die Hölle los. Wir haben so viele Aufträge, dass der Chef eigentlich neue Mitarbeiter einstellen müsste, aber dafür ist er zu geizig. Im allgemeinen Gehetze heute gibt es nur einen, der gelassen bleibt. Wie ein Fels in der Brandung sitze ich ruhig an meinem Schreibtisch, ohne mich von der Hysterie anstecken zu lassen. Ich ernte dankbare Blicke von Linda, die wieder Puffer spielen muss zwischen Chef und Mitarbeitern. Bei mir kann sie zwischendurch ein paar Minuten verschnaufen.
Theodora lässt sich nicht blicken. Erst habe ich mich gewundert, ob sie ihr Angebot vielleicht bereut, aber jetzt glaube ich, dass etwas anderes dahintersteckt. Als ich nach dem Mittagessen ins Büro zurückkomme, finde ich einen kleinen Zettel mit Theodoras Handschrift, mit ihrer Adresse und einer Uhrzeit – »Goethestraße 18, 20 Uhr« – mehr nicht. Das »o« von »Goethestraße« sieht aus wie ein Herz. Die Adresse passt zu Theodora. Wahrscheinlich eine Altbauwohnung, mit hohen weißen Decken, Matratze auf dem Boden … Theodora schläft bestimmt auf einer Matratze auf dem Boden. Ich stelle mir vor, wie ich auf dem Rücken liege, auf Theodoras Matratze, sie, in ihrer ganzen nackten Pracht, auf mir, sie reitet mich, keuchend, das Haar hängt ihr in die Stirn, mit einer unbewussten Bewegung streift sie es nach hinten, Richtung Stuckdecke … Eigentlich ein gutes Zeichen, dass sie alles so diskret abhandelt, mit einem Zettel, ohne Aufsehen zu erregen. Diskret. Ich wäre kein Gentleman, wenn ich das nicht zu schätzen wüsste. Sie will nicht, dass Gerüchte aufkommen. Wenn sie aber nicht will, dass Gerüchte aufkommen, dann heißt das indirekt, dass sie erwartet oder wenigstens hofft, dass es bald einen Grund gibt für Gerüchte! Ich habe nicht vergessen, wie sie mich angeschaut hat, damals nach dem Kino, als Jana auf der Toilette war. Es war sicher nicht leicht für Theodora, zurückgewiesen zu werden. Denn das war es ja eigentlich, eine Zurückweisung, ich habe ihr zu verstehen gegeben: Ich würde ja gerne, aber ich bin vergeben. Ein bisschen zu deutlich, vielleicht. Andererseits – vielleicht war das ungewollt genau die richtige Strategie. Man darf es den Frauen nicht zu leicht machen, das ist wie in der Werbung. Jeder will am liebsten ein Produkt, das nicht für jeden zu haben ist, sondern nur für ihn.
Mit derartigen Spekulationen verbringe ich den Nachmittag. Übrigens hat sich heute ein alter Verdacht bestätigt. Als ich mir gerade ein Glas Wasser holte, sah ich Emil, der mir den Rücken zudrehte und Theodora nachstarrte, ganz selbstvergessen stand er da. Was wird er sich ärgern, wenn er erfährt, dass ich jetzt bei ihr wohne! Ich habe ihn übrigens angesprochen, wie er da stand, habe ihn in ein Gespräch verwickeln wollen, was nicht ganz geklappt hat, wegen der allgemeinen Hektik. Es ist mir aber gelungen, eine Bemerkung über Theodora fallen zu lassen – »Schon stark, was die in letzter Zeit auf die Beine gestellt hat, die Zvarovska« –, und da ist er doch tatsächlich ein wenig rot geworden.
Schade an der Zettelgeschichte ist nur, dass ich nicht gemeinsam mit Theodora aufbrechen kann, das hätte mir gut gefallen. Aber so ist es besser. Schließlich verträgt es sich nicht mit meiner Rolle als treuer Ehemann einer todkranken Frau, etwas mit zehn Jahre jüngeren Kolleginnen anzufangen. Darum verzichte ich auch darauf, ihr einen Zettel zurückzuspielen, obwohl der Gedanke reizvoll ist.
Nach der Arbeit hole ich zu Hause ein paar Klamotten ab, dazu ein paar DVDs und mein Waschzeug. Ich dusche und ziehe ein frisches Hemd an. Janas Mutter ist zum Glück gerade nicht da. Ich habe noch eine Stunde Zeit. Um nicht doch noch Janas Mutter zu begegnen, gehe ich gleich wieder aus dem Haus und fahre einen Umweg. Einer Eingebung folgend, kaufe ich einen Strauß Blumen und eine
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