Der Wachsblumenstrauß
»Weil man unterschiedliche Gesichtshälften hat. Die Augenbrauen sind anders, der Mund geht auf einer Seite mehr nach oben, die Nase ist nicht ganz gerade. Das kann man mit einem Bleistift gut nachprüfen – hat jemand einen Bleistift?«
Ein Bleistift wurde geholt und sie machten Experimente, hielten den Stift rechts und links der Nasenflügel und lachten über die schiefen Gesichter.
Die Stimmung war jetzt gelöst, alle waren guter Dinge. Hier saßen nicht mehr die Erben von Richard Abernethie, die sich versammelt hatten, um das Vermögen aufzuteilen; hier saßen Menschen, die gemeinsam ein vergnügliches Wochenende auf dem Land verbrachten.
Nur Helen Abernethie sagte wenig und wirkte geistesabwesend.
Schließlich erhob Hercule Poirot sich seufzend aus seinem Sessel und wünschte seiner Gastgeberin höflich gute Nacht.
»Und vielleicht, Madame, sollte ich mich auch gleich verabschieden. Mein Zug fährt um neun Uhr in der Früh. Das ist sehr zeitig. So möchte ich Ihnen allen für Ihr Entgegenkommen und Ihre Gastfreundschaft danken. Das Datum der Übergabe – das wird mit dem guten Mr Entwhistle vereinbart. Ganz nach Ihrem Belieben, natürlich.«
»Die kann jederzeit stattfinden, Monsieur Pontarlier, wie es Ihnen am besten passt. Ich – ich habe hier alles getan, was ich tun wollte.«
»Sie fahren jetzt in Ihre Villa auf Zypern?«
»Ja.« Auf Helen Abernethies Lippen erschien ein kleines Lächeln.
»Sie sind froh, ja«, sagte Poirot. »Sie haben kein Bedauern?«
»England zu verlassen? Oder meinen Sie, das Haus hier zu verlassen?«
»Ich meinte – das Haus.«
»O nein. Es ist nicht gut, an der Vergangenheit festzuhalten, nicht wahr? Man muss sie hinter sich lassen.«
»Wenn man kann.« Mit unschuldig blinzelnden Augen lächelte Poirot in die Runde, in die höflichen Gesichter, die ihn umgaben.
»Manchmal, nicht wahr, lässt die Vergangenheit sich nicht begraben, erduldet nicht, dass sie in Vergessenheit gerät, nein? Sie steht neben einem, sie sagt: ›Ich bin noch nicht zu Ende.‹«
Susan lachte verlegen.
»Ich meine es ernst – ja«, sagte Poirot.
»Sie meinen, Ihre Flüchtlinge werden das Leiden, das sie erdulden mussten, auch hier nicht ganz hinter sich lassen können?«, fragte Michael.
»Ich meinte nicht meine Flüchtlinge.«
»Er meinte uns, Süßer«, erklärte Rosamund. »Er meint Onkel Richard und Tante Cora und das Beil und das alles.«
Sie wandte sich an Poirot.
»Oder?«
Poirot sah sie mit ausdruckslosem Gesicht an.
»Warum denken Sie das, Madame?«, fragte er.
»Weil Sie ein Detektiv sind, stimmt’s? Deswegen sind Sie auch hier. NARCO oder wie immer Sie das auch nennen, ist doch nur Fassade, oder?«
Zwanzigstes Kapitel
I
E inen Moment herrschte eine äußerst angespannte Stimmung. Poirot konnte das spüren, obwohl er den Blick nicht von Rosamunds schönem, ruhigem Gesicht nahm.
»Sie haben großen Scharfblick, Madame«, sagte er mit einer kleinen Verbeugung.
»Das nicht gerade«, sagte Rosamund. »Aber jemand hat mich in einem Restaurant mal auf Sie aufmerksam gemacht. Ich habe Sie wieder erkannt.«
»Aber Sie haben nichts gesagt – bis jetzt?«
»Ich dachte, so wäre es lustiger«, erklärte Rosamund.
»Mein – liebes Kind.« Michael konnte seine Stimme nur mit Mühe beherrschen.
Poirot sah zu ihm. Michael war wütend. Wütend und noch etwas – hatte er Angst? –
Langsam ließ Poirot den Blick über alle Gesichter wandern. Susan zornig und wachsam; Gregory ausdruckslos und verschlossen; Miss Gilchrist töricht, der Mund offen; George argwöhnisch; Helen bestürzt und nervös…
All diese Gesichtsausdrücke waren angesichts der Umstände durchaus normal. Poirot wünschte sich, er hätte sie eine Sekunde früher sehen können, als Rosamund das Wort »Detektiv« aussprach. Denn in der Zwischenzeit hatten sie sich zwangsläufig schon ein wenig verändert…
Er straffte die Schultern und beugte sich vor. Seine Sprache und sein Akzent wurden weniger ausländisch.
»Ja«, sagte er, »ich bin ein Detektiv.«
Neben Georges Nasenflügel waren wieder die weißen Dellen erschienen. »Wer hat Sie hergeschickt?«, wollte er wissen.
»Ich habe den Auftrag erhalten, die Umstände von Richard Abernethies Tod zu ermitteln.«
»Von wem?«
»Im Augenblick brauchen Sie sich nicht darum zu bekümmern. Aber es wäre doch von Vorteil, oder nicht, wenn Sie zweifelsfrei wissen könnten, dass Richard Abernethie eines natürlichen Todes gestorben ist?«
»Natürlich ist er
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