Der Wachsmann
du keine Ahnung von Verdiensten um das Gemeinwesen.«
»Ei, freilich«, gab Peter süffisant zurück, »ich stand letzte Nacht auf der Mauer, während der stolze Michael sich vom Wachdienst freikauft.«
Michael Barth, dem der Verlauf der Zänkerei sichtlich unangenehm wurde, flüchtete sich in beißenden Spott: »Mich dünkt, der gemeine Mann hat plötzlich die Ehre entdeckt. Doch merk dir: Auch die Sau, die eine Trüffel findet, bleibt immer noch eine Sau.«
»Spotte du nur!« erwiderte Peter ungerührt. »Aber da du so sehr um deinen guten Ruf besorgt bist: Warum behandelst du die Leute auf Gut Kempfenhausen so schlecht?«
»Wer sagt das?« brauste der Dicke auf.
»Der Oheim selbst, das Gesinde und jeder, den du dort fragst.« Peter übertrieb absichtlich ein wenig. Der raffgierige Bruder sollte sich ruhig ärgern, was auch gelang.
»So eine Frechheit!« Die fleischige Faust des älteren Barth krachte auf den Tisch. »Ich habe denen erst gezeigt, wie man wirtschaftet, und das ist der Dank!«
»Du meinst«, entgegnete Peter ruhig, »dein Verwalter plündert das Gut aus und nimmt den Bewohnern auch die Freude, die sie trotz schwerer Arbeit bislang noch hatten.«
»Ich bin Kaufmann und kein Samariter!« brüllte der Angegriffene. »Und gerade der Oheim darf sich sowenig beklagen wie du! Ihr seid beide die gleichen Schmarotzer! Hockt seit Jahren auf dem Gut wie die Maden im Speck und kümmert euch um nichts anderes, als die Jagd und euer Wohlergehen. Aber vom täglichen Wagnis des Handels, vom Risiko alles zu verlieren – davon habt ihr beide nicht die leiseste Ahnung. Und jetzt scher dich raus!« Michael Barth wies unwirsch auf die Türe. »Aber das eine sage ich dir. Deinen Dickschädel wirst du noch bereuen! Und wenn du mir weiterhin Schwierigkeiten machst, dann werde ich dich vor den Rat ziehen, die Bürgschaft aberkennen und dich aus der Stadt werfen lassen, so wahr ich Michael Barth heiße!«
Der Kaufmann rief erregt nach zwei Knechten, die gleich darauf beflissen hereinstürzten.
Peter erhob sich ruhig und hob beschwichtigend die Hände. Dann holte er aus der Tiefe seines Herzens den giftigsten Pfeil hervor und richtete ihn kaltlächelnd auf sein wutschnaubendes Gegenüber: »Eines sollst du noch wissen: Du magst mich wie einen Aussätzigen behandeln und mir mein Recht vorenthalten. Doch du wirst es niemals ändern können, daß wir vom gleichen Fleisch und Blut sind. Ob du willst oder nicht: Wir sind Brüder!«
»Halbbrüder«, protestierte der Kaufmann, »und für mich und meine Mutter nicht einmal das! Du bist und bleibst der gemeine Balg einer unzüchtigen Magd!«
Peter spürte wieder die Wut in sich aufsteigen und ließ nun zornbebend den Pfeil von der Sehne schnellen: »Doch diesen Balg hat unser Vater allzeit mehr geliebt als seinen verkommenen Erstgeborenen!«
»Bastard!« schäumte Michael Barth. »Elender B-a-s-t-a-r-d!«
Bevor ihm Peter an den Hals springen konnte, gingen die Knechte dazwischen. Peter riß sich los, polterte die Treppe hinunter und stürmte auf die Straße. Fast hätte er einen Hausierer über den Haufen gerannt, der mit seiner Kraxe von Tür zu Tür ging und Kleinkram für den Haushalt feilbot.
»Paß doch auf, du Tölpel!« Ein Fuhrmann riß wütend sein Gespann am Zügel zurück. Doch Peter stürmte wie Odins nächtliche Jagd die Kaufingergasse hinunter und sah und hörte nichts. Aber er schimpfte und fluchte ganz entsetzlich vor sich hin: »Ich hasse ihn! Ich hasse ihn! Eher platzt diesem aufgeblasenen Wichtigtuer der Wanst, als daß er mich aus der Stadt wirft. Ich könnt’ ihn umbringen! Die Pest wünsch’ ich ihm und seiner ganzen Brut an den Hals! Soll er doch verrecken…«
Peter hielt erst inne, als er das Tor passiert hatte – heftig schnaufend und noch immer am ganzen Körper zitternd vor Wut. Erst jetzt spürte er das Brennen in den Handflächen. So sehr hatte er die Hände zu Fäusten geballt. Er stützte sich auf das Geländer der Brücke, die über den Graben führte und starrte eine Weile in den träge dahinfließenden Stadtbach. Die Sonne stand inzwischen schon weit im Westen, und seine Gestalt warf einen langen Schatten auf Graben und Mauer. Der Blick auf sein im Wasser tanzendes Abbild vermochte ihm keine Ruhe zu geben, spiegelte vielmehr seine innere Unruhe und Zerrissenheit wider. Und plötzlich erschrak Peter zutiefst über sich selbst. Nicht nur, daß er mit seinem Bruder im Streit lag, er hatte soeben auch kräftig auf ihn geflucht. Ja, er
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