Der Wachsmann
anderes, als daß Judas den Herrn verrät und ihm alsbald Matthias in den Kreis der Apostel nachfolgt. Doch ich sehe schon, meine Deutung vermag dich nicht zufriedenzustellen.«
»Nein, nein«, beeilte sich Peter, auf dessen Stirn sich tatsächlich die Falten des Zweifels zeigten, zu versichern. »Es ist nur… Judas hat sich doch selbst gemordet. Und dem Jakob wird nachgesagt, er habe sich erhängt. Zumindest versuchte jemand, es so darzustellen. Ich frage mich daher, ob derjenige bemüht war, den Eindruck durch Hinterlassung des Psalms noch zu verstärken? Welchen Sinn sollte das alles sonst haben?«
»Hm«, fuhr der gelehrte Mönch fort, »im zweiten Text vermag ich keinen prophetischen Hinweis auf Christus zu erkennen. Wir sollten uns daher fragen, was die beiden Texte sonst möglicherweise verbindet.«
»Und die zwei Morde«, warf Peter ein.
»Richtig«, wiederholte der Prior nachdenklich, »und die zwei Morde. In beiden Fällen sieht es doch so aus, als sei der Text die Ankündigung dessen, was dem bedauernswerten Opfer widerfährt.«
»Das dachte ich zuerst auch«, stimmte Peter zu. »Aber ich weiß ganz sicher, daß Jakob nicht Hand an sich legte. Damit ergibt diese Vermutung doch keinen Sinn.«
»Das ist richtig«, bestätigte Prior Konrad, »aber auch nur, wenn wir den Psalm auf den Messias bezogen deuten. Tun wir dies nicht, dann enthält er keinerlei Hinweis auf die ruchlose Tat einer Selbsttötung. Wir erfahren aber, daß jemand als Verurteilter aus dem Gericht hervorgehen soll. Denn da heißt es: Wenn er gerichtet wird, gehe er als Schuldiger davon, und sein Gebet werde zur Sünde. Dies trifft auf deinen Freund Jakob unzweifelhaft zu.«
Peter staunte. Diesen Zusammenhang hatte er noch gar nicht gesehen.
»Wir könnten demnach sagen«, faßte Peter die bisherigen Überlegungen zusammen, »daß in den Psalmen Ankündigungen erfolgten, die so mehr oder weniger eintrafen. Aber dies brächte doch auch nur etwas Licht ins Dunkel«, schränkte Peter ein, »wenn wir sicher wüßten, daß die Ankündigungen geraume Zeit vor der Ausführung erfolgten.«
»Es sei denn…«, murmelte der Prior versonnen vor sich hin, »es sei denn – mein Gott, mir graut vor dem Gedanken.«
»Was habt Ihr?« fragte Peter besorgt. »So sprecht doch, ehrwürdiger Vater, ich bitt’ Euch!«
»Ich habe das nächstliegende nicht bedacht«, antwortete der Gottesmann beinahe flüsternd. »Das einzig wahrhaft Verbindende ist der Fluch!«
»Gott, der Gerechte!« entfuhr es Peter entsetzt. »Welcher Fluch?«
»Nun«, führte der Prior aus, »die Psalmen sind in ihrer Mehrheit Lob und Preis auf Gottes Herrlichkeit. Daneben finden wir Klagen und Flehgebete der Bedrängten sowie Dank-und Siegeslieder. Eine kleine Zahl von Liedern aber erscheint zu keinem dieser Zwecke geeignet. Sie klingen vielmehr so, als habe dem Psalmisten der Engel der Finsternis die Feder geführt. Denn sie sind voll von Flüchen, Verwünschungen und Rachegedanken. Und wir haben es hier mit zweien dieser unheilig anmutenden Gesänge zu tun.«
Peter fröstelte merklich, obwohl es noch nicht einmal Abend und die Luft angenehm warm war. »Aber was hat dies zu bedeuten?« fragte er bedrückt.
»Das mag vielleicht bedeuten, daß die Flüche auf ein Ereignis hinweisen sollen, welches erst noch stattfinden und in seiner Abscheulichkeit die bisherigen Übel weit übertreffen wird. Dann sei der Herr uns gnädig!«
In den Augen des Priors lag schrecklicher Ernst, als sähe er in fürchterlicher Vision die künftigen Frevel schon voraus.
»Aber…«, schloß Peter – und der Gedanke weckte noch heftigeren Abscheu in ihm –, »dann hätten die beiden Morde gleichsam nur als Drohung für eine noch gräßlichere Tat eines… eines Wahnsinnigen gedient. Mord als Botschaft? Welch grauenvolle Vorstellung!«
»Du hast zweifellos recht, mein Sohn«, stimmte der Prior notgedrungen zu. »Aber ob es die Taten eines im Geiste oder nur an seiner Seele Fehlgeleiteten sind, das läßt sich noch nicht sagen. Sicher scheint nur, daß er Satan als seinen Herrn erkennt.«
»Sagt, ehrwürdiger Vater«, drang Peter weiter in den frommen Gelehrten, »habt Ihr eine Ahnung, worauf sich diese Flüche oder diese eine, große Tat beziehen mögen?«
»Ich wollte, es wäre so. Gib mir noch ein wenig Zeit!« Der Prior vertiefte sich nochmals in den Psalter und Peter erschien es wie eine Ewigkeit, bis der Mönch wieder das Wort ergriff.
»So es sich wirklich um eine Verfluchung handelt –
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