Der Wächter
Natur aus war er kein guter Lügner. In einer Lage, in der man lügen musste, um als normal zu gelten oder auch nur zu überleben, konnte dieses mangelnde Talent den Tod bedeuten.
»Sandwiches, Sandwiches.«
Er war ein katastrophal schlechter Lügner.
Und er war allein. Selbst wenn er eventuell eine Art halb garen Schutzengel hatte, war er mutterseelenallein.
Jedes Mal, wenn er an einem Fenster vorbeikam, musste er daran denken, dass der stürmische Tag allmählich spürbar dahinschmolz. Dann kam die Nacht, und mit ihr wahrscheinlich Moloch.
Er war klein und dünn für sein Alter, ein schlechter Lügner und allein. Alles sprach gegen ihn.
»Pandwiches«, murmelte er vor sich hin. »Bloß ein paar Pandwiches mit Schutenhinken und Sayonnaise.«
Er war geliefert.
60
Königinpalmen, Königspalmen und Phönixpalmen schüttelten ihre gefiederten Wedel wie die vom Sturm gepeitschten Bäume in Key Largo . Busse, Limousinen, Laster und Geländewagen verstopften die Straßen. Scheibenwischer kamen nicht gegen die Wassermassen an, Seitenfenster beschlugen, Hupen plärrten, Bremsen quietschten. Während die Fahrer um jeden Meter kämpften und sinnlos beschleunigten, bis sie doch wieder bald zum Stehen kamen, verbreiteten sie einen fast greifbaren Frust, der an die Eröffnungsszene aus Falling Down – Ein ganz normaler Tag erinnerte. Nur Michael Douglas fehlte, obwohl Ethan nicht ausschließen konnte, dass auch der mittendrin in diesem Schlamassel steckte und allmählich so wahnsinnig wurde wie der brave Bürger, den er im Film spielte. Unter der Markise eines Buchladens stand eine Gruppe schwarz gekleideter, geschminkter Punker mit Stachelhaaren und Augenbrauen-, Nasen- und Zungenpiercings. Einer von ihnen trug eine Melone, was Ethan an die Droogs in Uhrwerk Orange erinnerte. Als Nächstes kam eine Gruppe weiblicher Teenager, alle wunderhübsch, die ihre Ferien genossen und ohne Regenschirm spazieren gingen. Obwohl ihnen das Haar am Kopf klebte, strahlten und lachten sie, als spielten sie alle die Rolle des übermütigen Partygirls Holly Goligthly in einem Remake von Frühstück bei Tiffany , das tausende von Kilometern vom ursprünglichen Schauplatz entfernt an der kalifornischen Küste gedreht wurde. Das düstere Gewitter-licht verwandelte den Mittag in Abenddämmerung wie bei einer am helllichten Tag in Szene gesetzten Nachtaufnahme. Die Lichter der Läden, das Neon, die kalten Leuchtstoffröhren, die hellen Girlanden aus bunten, asiatisch wirkenden Laternen, die als politisch korrekter Weihnachtsschmuck die Straßen zierten, die Scheinwerfer und Rücklichter – alles spiegelte sich in den Schaufenstern, in der Verglasung von Bürohäusern, die man den kommenden Erdbeben zum Trotz wahnwitzig in die Höhe getrieben hatte, und auf dem nassen Pflaster. Selbst die Auspuffwolken glitzerten in wogenden Perlmuttfarben und weckten in Ethan Erinnerungen an die Stimmung in Der Blade Runner .
Der Tag war gleichzeitig allzu real und allzu phantastisch. Träumte man an ihm von Hollywood, so wurde die Stadt an manchen Orten heller, an vielen jedoch dunkler, während sich jede Ecke verwandelte, bis nichts mehr so stabil aussah, wie es hätte sein sollen.
Sie saßen in Ethans Expedition; Hazards getarnten Dienstwagen hatten sie in der Tiefgarage des Krankenhauses stehen lassen. Da Ethan keine polizeiliche Autorität mehr verkörperte, konnte er auch niemandem mehr telefonisch Daumenschrauben anlegen, wogegen sein Partner nicht gleichzeitig Daumenschrauben anlegen und ein Auto lenken konnte.
Um die sechs Spuren zu überprüfen, mussten sie in Revieren wildern, für die das LAPD nur teilweise zuständig war. Ohne die nötigen Genehmigungen einzuholen, hatte selbst Hazard dort keine legitime Autorität, aber für den Dienstweg war die Zeit zu knapp.
Vom Beifahrersitz aus tätigte Hazard die unterschiedlichsten Anrufe. Gelegentlich ging sein Ton von einem höflichen, fast romantischen Plaudern in ein forderndes Dröhnen über, aber meistens blieb er umgänglich und leutselig. Dabei bediente er sich unerbittlich des Eindrucks, den das Wort »Mordkommission« machte, um die Bürokraten verschiedener Universitäten mit Zuckerbrot und Peitsche zur Zusammenarbeit zu zwingen.
Alle Colleges und Universitäten im Großraum Los Angeles hatten während der letzten zwei oder drei Wochen des Jahres Ferien. Für die Betreuung der wenigen Studenten, die zu Weihnachten nicht nach Hause gefahren waren, war nur ein kleines Stammpersonal im
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