Der Wächter
ausgedehnten Anwesen erreichbar waren. Sie mit der Sprechanlage anzuquäken war nur selten notwendig. Musste man jemand erreichen, der nicht mit einem Pager ausgestattet war, oder hatte man das Recht, nach Belieben mit Fric oder seinem Vater in Kontakt zu treten – was nur für das Ehepaar McBee und Ethan galt –, dann musste man ein Zimmer nach dem anderen anrufen. Man begann natürlich mit dem Raum, in dem man den Gesuchten für den Moment am ehesten vermutete.
Da bald fünf Uhr war, befand sich kaum noch jemand im Haus, der durch die Sprechanlage abgelenkt werden konnte. Fric war das einzige Mitglied der Familie Man-heim, das im Haus weilte, und die McBees waren in Santa Barbara. Trotzdem fühlte Ethan sich verpflichtet, aus Achtung vor Mrs. McBee und der Tradition der üblichen Prozedur zu folgen. Außerdem hatte er das Gefühl, Mrs. McBee würde von dem Verstoß sofort erfahren und ihren kurzen Weihnachtsurlaub in Santa Barbara daraufhin nicht genießen können.
Ethan drückte an einem der Küchentelefone die Ruftaste und versuchte es also zuerst einmal in Frics Zimmerflucht im zweiten Stock. Als Nächstes suchte er den Jungen im Eisenbahnzimmer – »Bist du da, Fric? Hier spricht Mr. Truman« –, im Kino und dann in der Bibliothek. Er erhielt von nirgends eine Antwort.
Fric war zwar noch nie launisch und schon gar nicht unverschämt gewesen, aber vielleicht hatte er ja einen bestimmten Grund, nicht auf die Durchsage zu reagieren, obwohl er sie hörte.
Weil er keine Antwort erhielt, entschloss sich Ethan, das Haus von oben bis unten zu durchsuchen, vor allem um den Jungen zu finden, aber auch um sich zu vergewissern, dass alles so war, wie es sein sollte.
Er fing im zweiten Stock an. Dabei trat er zwar nicht in jedes Zimmer, machte aber zumindest die meisten Türen auf, um hineinzuspähen, und rief Fric dabei immer wieder beim Namen.
Die Tür zu Frics Zimmerflucht stand offen. Nachdem er sich zweimal angekündigt, aber keine Antwort erhalten hatte, beschloss Ethan, dass die Sicherheit an diesem Abend wichtiger war als die übliche Etikette und die Privatsphäre eines Familienmitglieds. Er ging durch Frics Zimmer, fand jedoch weder den Jungen noch etwas Ungewöhnliches vor.
Während er durch den Ostflügel zum Nordflur und damit auf die Haupttreppe zuging, blieb Ethan dreimal stehen, um zu lauschen. Er spürte ein Kribbeln im Nacken, das ihm sagte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.
Ruhe. Stille.
Er hielt den Atem an, hörte jedoch nur sein Herz schlagen.
Als er auch diesen inneren Rhythmus ausblendete, nahm er nichts Wirkliches mehr wahr, sondern nur absurde Dinge, die er sich einbildete: verstohlene Bewegungen in dem antiken Spiegel über dem Sideboard, eine leise Stimme wie die im Telefon am Abend zuvor, nur noch schwächer. Sie rief ihn nicht aus einem der Zimmer links oder rechts, sondern von einem Ort, der sich hinter einer nicht einsehbaren Biegung auf der Straße zur Ewigkeit befand.
Im Spiegel war nur sein eigenes Bild zu sehen, keine verschwommene Gestalt, kein Freund aus der Kindheit.
Als er wieder zu atmen begann, war die ferne Stimme, die nur in seiner Phantasie existierte, nicht einmal dort mehr hörbar.
Er ging die Haupttreppe zum ersten Stock hinab, wo er Fric schließlich in der Bibliothek entdeckte.
In ein Buch versunken, saß der Junge auf einem Sessel, der nicht an seinem üblichen Ort stand. Die Lehne berührte fast den Weihnachtsbaum.
Als Ethan die Tür öffnete und eintrat, schrak Fric heftig zusammen, was er aber sofort zu tarnen versuchte, indem er so tat, als hätte er sich nur zurechtgesetzt. Mit angstvoll aufgerissenen Augen saß er stocksteif da, bis er merkte, dass Ethan nur Ethan war.
»Na, Fric, wie geht’s? Ich hab dich erst vor ein paar Minuten mit der Sprechanlage gerufen.«
»Das hab ich nicht gehört, äh, wirklich, mit der Sprechanlage?«, sagte der Junge unbeholfen. Hätte man ihn an einen Lügendetektor angeschlossen, wäre das Gerät womöglich explodiert.
»Du hast den Sessel umgestellt.«
»Den Sessel? Nein, äh, ich hab ihn so gefunden, genau so, wie er jetzt dasteht.«
Ethan hockte sich auf die Lehne eines der anderen Sessel. »Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«, fragte er.
»Wieso?«, erwiderte der Junge, als würde er die Frage nicht verstehen.
»Willst du mir etwas sagen? Hast du wegen irgendetwas Angst? Du kommst mir ziemlich verändert vor.«
Der Junge wandte den Blick ab und starrte in sein Buch. Dann schloss er es und ließ es in
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