Der Wächter
den Schoß sinken.
In seiner Zeit als Cop hatte Ethan, wie gesagt, schon vor langem gelernt, sich in Geduld zu üben.
Fric blickte ihn wieder an und beugte sich vor. Einen Moment lang sah es so aus, als wollte er Ethan verschwörerisch etwas zuflüstern, dann überlegte er es sich jedoch offenbar anders und richtete sich auf. Ohne zu verraten, was ihn quälte, zuckte er die Achseln. »Weiß auch nicht. Vielleicht bin ich nervös, weil mein Dad am Donnerstag nach Hause kommt.«
»Das ist doch schön, oder nicht?«
»Klar. Aber nervös bin ich trotzdem.«
»Wieso das denn?«
»Na ja, bestimmt bringt er ein paar von seinen Kumpels mit. Das ist immer so.«
»Magst du seine Freunde nicht?«
»Die sind schon in Ordnung. Es sind eben alles Golfer und Sportfreaks. Dad spricht gern über Golf und Football und so Sachen. Das braucht er zur Entspannung. Seine Kumpels und er, die sind wie ein Klub.«
Ein Klub , in dem du kein Mitglied bist und nie eines sein wirst , dachte Ethan mit einem Mitgefühl, das ihm die Kehle zuschnürte.
Am liebsten hätte er den Jungen in den Arm genommen und ihn ins Kino eingeladen, in ein richtiges Kino, nicht in den opulenten Vorführsaal im Keller des Palazzo Rospo, sondern in ein stinknormales Multiplex, wo es von Kindern und ihren Eltern nur so wimmelte, wo es nach Popcorn roch und nach parfümiertem Rapsöl, das nach Butter duften sollte, wo man seinen Platz erst nach Kaugummi und Schokolade absuchen musste, bevor man sich setzte, und wo man bei lustigen Passagen des Films nicht nur das eigene Lachen hörte, sondern das einer ganzen Menschenmasse.
»Außerdem hat er bestimmt eine Frau dabei«, fuhr Fric fort. »Das ist immer so. Mit der letzten hat er Schluss gemacht, bevor er nach Florida geflogen ist. Ich weiß nicht, wer die neue ist. Vielleicht ist sie ja nett. Das sind sie nämlich manchmal. Aber sie ist neu, und ich muss mich erst mal an sie gewöhnen, was nicht so einfach ist.«
Für eine Unterhaltung zwischen dem Sohn des Dienstherrn und einem Mitglied des Personals befanden sie sich auf gefährlichem Terrain. Schon aus Mitgefühl durfte Ethan nichts sagen, was seine wahre Meinung über Channing Manheim als Vater verriet oder erkennen ließ, dass dieser nach Ethans Meinung nicht die richtigen Prioritäten setzte.
»Egal, wer die neue Freundin deines Vaters ist, du wirst dich leicht an sie gewöhnen, weil sie dich bestimmt mögen wird«, sagte Ethan. »Jeder mag dich, Fric«, fügte er hinzu und ahnte, dass der liebenswerte, zutiefst bescheidene Junge diese Worte als eine Offenbarung auffassen würde, die er wahrscheinlich gar nicht glauben konnte.
Fric saß mit offenem Mund da, als hätte Ethan soeben erklärt, Fric sei ein Affe, der als Mensch durchgehen könne. Die Röte stieg ihm ins Gesicht, während er den Blick verwirrt auf das Buch in seinem Schoß senkte.
Irgendetwas in dem Baum hinter Fric ließ Ethan aufschauen. Der herabbaumelnde Weihnachtsschmuck war in Bewegung geraten: Engel, die sich drehten, Engel, die nickten, Engel, die tanzten.
Die Luft in der Bibliothek war so still wie die Bücher auf den Regalen. Falls es einen schwachen Erdstoß gegeben hatte, durch den der Baum ins Schwanken geraten war, hatte Ethan ihn nicht gespürt.
Die Bewegung der Engel kam langsam wieder zum Stillstand, als wäre sie vom Luftzug eines vorübergehenden Geistes ausgelöst worden.
Eine seltsame Erwartung überkam Ethan, ein Gefühl, dass sich in seinem Herzen womöglich eine Tür öffnete, die zum Verständnis führte. Er merkte, dass er den Atem anhielt und dass die Härchen auf seinen Handrücken sich wie statisch aufgeladen aufgestellt hatten.
»Monsieur Hachette«, sagte Fric.
Die Engel kamen endgültig zur Ruhe, und der bedeutungsschwangere Augenblick verging ohne jede Offenbarung.
»Wie bitte?«, sagte Ethan.
»Monsieur Hachette mag mich nicht«, sagte Fric, anscheinend um die Behauptung zurückzuweisen, dass man ihn mehr schätze, als er denke.
Ethan lächelte. »Also, ich bin mir nicht sicher, ob Monsieur Hachette überhaupt irgendjemand besonders mag. Aber er ist ein klasse Koch, oder nicht?«
»Das ist Hannibal Lecter auch.«
Obwohl es zweifellos schlechter Stil war, sich über ein anderes Mitglied des Personals lustig zu machen, konnte Ethan ein Lachen nicht unterdrücken. »Vielleicht bist du da ja anderer Meinung, aber eins weiß ich sicher: Wenn Monsieur Hachette sagt, er hat dir ein Kalbsschnitzel auf den Teller gelegt, dann ist es Kalbfleisch und nichts
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