Der Wächter
die Augen vor einer größeren und entsetzlicheren Wahrheit als der Tatsache, dass die Schneeflocken in Wirklichkeit Regentropfen waren.
Stimmen kamen näher. Das mussten seine Eltern sein, die kamen, um das Dach wieder dahin zu setzen, wohin es gehörte, um sein steinernes Kissen wieder zu einer gemütlich flauschigen Unterlage aufzuschütteln, um alles, was verkehrt war, zu richten.
Ethan überließ sich ihrer liebevollen Zuwendung und schwebte wie eine Feder hinab in die Dunkelheit, dem Lande Nod zu. Es war nicht jenes Nod, wohin Kain geflohen war, nachdem er Abel erschlagen hatte, sondern das Schlummerland, in das träumende Kinder reisten, um Abenteuer zu bestehen, und aus dem sie sicher zurückkehrten, um in der goldenen Morgendämmerung zu erwachen.
Während er noch durch die Dunkelheit nördlich von Nod schwebte, hörte er das Wort: »Rückenmarkverletzung.«
Als er eine oder zehn Minuten später die Augen öffnete, stellte er fest, dass die Nacht voller roter, gelber und blauer Lichter war, die wie in einer Openairdiskothek pulsierten und sich drehten. Da wusste er, dass er nie wieder tanzen oder gehen würde.
Flankiert von Sanitätern, glitt Ethan auf einer Trage liegend zum unmelodischen, gebrochenen Gesang von Funkgeräten durch den Regen auf einen Rettungswagen zu.
Auf der weißen Seitenfläche prangte groß das Wort AMBULANZ, und darunter leuchteten in roten, mit Gold umrahmten Lettern kleiner die Worte OUR LADY OF THE ANGELS HOSPITAL.
Vielleicht gab man ihm ein Bett in Dunnys altem Zimmer.
Eine Aussicht, die ihn mit namenloser Angst erfüllte.
Er schloss die Augen für einen Zeitraum, der ihm wie ein Blinzeln vorkam, hörte Männerstimmen, die sich warnend »Vorsicht!« und »Langsam, langsam!« zuriefen, und als er wieder etwas sah, hatte er sich in den Rettungswagen geblinzelt.
Er merkte, dass er im rechten Arm schon eine Nadel stecken hatte. Von ihr führte ein Schlauch zu einem an der Decke baumelnden Beutel mit Blutplasma.
Zum ersten Mal hörte er nun seinen Atem, durchsetzt mit Pfeifen, Rauschen und Rasseln, und da wusste er, dass nicht nur seine Beine zermalmt worden waren. Wahrscheinlich kämpfte mindestens einer seiner Lungenflügel gegen die Umklammerung des teilweise zusammengebrochenen Brustkorbs an.
Er sehnte sich nach Schmerzen. Alles wäre besser gewesen als diese grässliche Gefühllosigkeit.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte der neben Ethan sitzende Sanitäter nervös zu seinem Kollegen, der jenseits der offenen Tür im Regen stand.
»Ich werde schon ordentlich aufs Gas steigen«, antwortete der vom Wetter gepeitschte Sanitäter und schlug die Tür zu.
An beide Seitenwände waren unterhalb der Decke Girlanden aus rot glitzerndem Flitter gespannt. Kleine Silberglöckchen zierten sie an beiden Enden und in der Mitte. Weihnachtlicher Schmuck.
Es waren je drei unterschiedlich große Glöckchen, die gemeinsam an einem Faden hingen, ganz oben das größte, ganz unten das kleinste.
Als die Tür zuschlug, stießen die Glöckchen aneinander und ließen ein silberhelles Läuten ertönen, so sachte wie Elfenmusik.
Der Sanitäter setzte Ethan eine Sauerstoffmaske auf.
Kühl wie der Herbst und mild wie der Frühling linderte eine satte Luftmischung das Brennen in Ethans heißer Kehle, wenngleich das pfeifende Geräusch nicht das kleinste bisschen nachließ.
Inzwischen hatte sich der Fahrer hinters Lenkrad gesetzt und schlug die Tür auf seiner Seite zu. Wieder glitzerte der rote Flitter, und die Glöckchen klingelten.
»Glocken«, sagte Ethan, aber die Sauerstoffmaske dämpfte das Wort.
Der Sanitäter, der damit beschäftigt war, sich die Hörer eines Stethoskops in die Ohren zu stecken, hielt inne. »Was haben Sie gesagt?«
Beim Anblick des Stethoskops wurde Ethan bewusst, dass er den eigenen Herzschlag hören konnte; und was er hörte, kam rau, unregelmäßig, war beängstigend.
Er lauschte nicht nur seinem Herzen, sondern auch der Mähre von Gevatter Tod, die mit klappernden Hufen herantrabte.
»Glocken«, wiederholte er, während im Kopf die Tore zu tausend Ängsten aufflogen.
Der Rettungswagen setzte sich in Bewegung, und als er losrollte, erhob auch schon die Sirene ihre schrille Stimme.
Die Glöckchen hörte Ethan in dem schaurigen Heulen nicht mehr, aber er sah die drei, die ihm am nächsten waren, an ihrem Faden zittern. Zittern.
Er griff mit der linken Hand nach den baumelnden Glöckchen, kam jedoch nicht so weit. Seine Finger griffen in die Leere.
Mit der
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