Der Wächter
entsetzlichen Angst ging eine alles betäubende Verwirrung einher. Vielleicht lag Ethan ja schon im Delirium, aber es kam ihm so vor, als wären die Glöckchen mehr als nur Schmuck. Sie sahen in ihrer glänzenden Glätte, ihren schimmernden Rundungen irgendwie mystisch aus; sie waren eine Verkörperung der Hoffnung, und er musste sie unbedingt in der Hand halten.
Offenbar begriff der Sanitäter die Dringlichkeit von Ethans Wunsch, selbst wenn er den Grund dafür nicht kennen konnte. Er zog jedenfalls eine kleine Schere aus einem Schubfach, stand dann schwankend auf und schnitt den Knoten durch, mit dem die am besten erreichbaren Glöckchen an der Girlande befestigt waren.
Als Ethan die drei Glöckchen in der linken Hand spürte, umklammerte er sie mit einem Griff, der ebenso zart wie heftig war.
Obwohl er erschöpft war, wagte er es nicht, die Augen zu schließen, weil er Angst hatte, die Dunkelheit könnte bleiben, statt zu verschwinden, wenn er sie wieder aufschlug. Dann würde er nie mehr etwas von dieser Welt sehen.
Der Sanitäter griff wieder nach seinem Stethoskop und steckte sich die Hörer in die Ohren.
Mit den Fingern der linken Hand zählte Ethan die Glöckchen am Faden, von der kleinsten zur größten und zurück zur kleinsten.
Ihm wurde klar, dass er die kleinen Dinger so hielt wie den Rosenkranz, den er in den letzten Nächten von Hannahs Leben in ihrem stillen Krankenzimmer gehalten hatte: mit ebenso viel Verzweiflung wie Hoffnung, mit einer unerwarteten Ehrfurcht, die dem Herzen Kraft verlieh, und mit einem Gleichmut, der es wappnete. Seine Hoffnung hatte sich nicht erfüllt, aber sein Gleichmut war später unentbehrlich gewesen, als es notwendig wurde, Hannahs Tod zu überleben.
Mit Daumen und Zeigefinger hatte er damals versucht, Erbarmen aus den Perlen des Rosenkranzes zu pressen. Während er nun sanft über die Rundungen von Glöckchen, Glöckchen und Glöckchen strich, suchte er weniger Erbarmen als Verständnis. Er suchte eine Offenbarung, die kein Ohr hören konnte, die aber doch im Herzen widerhallte.
Obwohl Ethan die Augen nicht schloss, um sich nicht in Dunkelheit zu hüllen, drangen von den Rändern des Blickfelds her Schatten vor wie Tinte, die durch die Fasern eines Löschblatts sickerte.
Offenbar nahm das Stethoskop Rhythmen wahr, die den Sanitäter beunruhigten. Er beugte sich dicht über Ethan, aber seine Stimme kam wie aus weiter Ferne, und obwohl sein Gesicht eine Maske aus ruhiger Professionalität war, sprach er mit einer Eindringlichkeit, die tiefe Sorge um seinen Patienten verriet. »Ethan, lassen Sie uns jetzt bloß nicht im Stich. Nicht aufgeben! Durchhalten, verdammt noch mal!«
Von einem Knoten aus Finsternis umschlungen, wurde Ethans Blickfeld kleiner. Die Fesseln zogen sich immer enger zu.
Er nahm den beißenden Geruch von medizinischem Alkohol wahr. Unterhalb der linken Armbeuge wurde es kühl, dann spürte er den Stich einer Kanüle.
In seinem Innern hörte er, wie sich die klappernden Hufe des auf seiner Mähre dahintrabenden Todes in das Donnern eines apokalyptischen Rudels verwandelten, das in wildem Galopp einherstürmte.
Der Rettungswagen raste noch immer aufs Krankenhaus zu, aber der Fahrer ließ die Sirene inzwischen ruhen. Offenbar verließ er sich auf die Wirkung der kreisenden Lichter auf dem Dach.
Da das Heulen der Todesfee verstummt war, glaubte Ethan, wieder Glocken hören zu können.
Es waren nicht die Glöckchen, die er wie einen Rosenkranz in der Hand bewegte, und auch nicht jene, die noch von den rot funkelnden Flittergirlanden hingen. Es waren Glocken, die in der Ferne erklangen und ihn mit silberheller Beharrlichkeit riefen.
Sein Blickfeld verengte sich zu einem matten Lichtfleck, dann zog sich der tödliche Knoten noch enger zusammen und ließ ihn schließlich vollständig erblinden. Ethan, der sich mit der Unvermeidlichkeit des Todes und der endlosen Dunkelheit abgefunden hatte, schloss zu guter Letzt doch die Lider.
Erst öffnete er die Tür, dann schlug er die Augen auf.
Begleitet von knurrendem Wind und dem Klingeln der Glöckchen über der Tür, trat er aus dem Blumenladen in die schneidende Kälte des Dezemberabends hinaus und zog anschließend die Tür hinter sich zu.
Fassungslos, am Leben zu sein, konnte er erst nicht recht glauben, dass er auf heilen, ungebrochenen Beinen stand. Er wartete in der Nische zwischen den beiden Schaufenstern, während ein junges Paar mit hochgeschlagener Regenmantelkapuze auf dem Gehsteig
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