Der Wächter
mal ein Halbprofil mit einem offenen Auge, das mit trüber Lust ins Leere starrte.
Selbst einem sonst nicht zu Aberglauben neigenden Betrachter dieses grotesken Stilllebens wäre wohl in den Sinn gekommen, dass die anonymen Stadtstreicher und die halbwüchsigen Ausreißer, die da lagen, sich gelegentlich besuchten, wenn kein lebender Zeuge zugegen war. War es nicht möglich, dass sich die ruhelosen Toten in den einsamsten Stunden nach Mitternacht zu einer kalten, grässlichen Parodie der Leidenschaft zusammenfanden?
Hätte Corky Laputa an ethische Werte geglaubt oder auch nur daran, dass der gute Geschmack gewisse Regeln des sozialen Verhaltens erforderte, dann hätte er seine zweiminütige Wartezeit vielleicht damit verbracht, die achtlos drapierten Leichentücher zurechtzuziehen, weil er selbst unter den Verstorbenen auf etwas Sittsamkeit bestanden hätte.
Stattdessen genoss er den Anblick, weil in dieser Kammer die schönste Frucht der Anarchie herrschte. Außerdem wartete er mit beträchtlicher Vorfreude auf das Erscheinen des normalerweise unerschütterlichen Roman Castevet, der in diesem Falle ordentlich erschüttert sein würde.
Es waren fast auf die Sekunde zwei Minuten vergangen, als die Türklinke klickte, quietschte und sich nach unten bewegte. Die Tür ging auf, jedoch nur wenige Zentimeter weit.
Das eine Auge, das durch den Spalt lugte, war so weit geöffnet wie das einer aufgescheuchten Eule. Offenbar hatte Roman Angst, dass Corky ihn in Begleitung eines Kamerateams und eines Rudels sensationslüsterner Reporter erwartete.
»Tritt ein, herein, herein«, sagte Corky aufmunternd. »Du bist hier unter Freunden, selbst wenn du die Absicht hast, einige davon irgendwann in nächster Zeit zu sezieren.«
Roman öffnete die Tür gerade weit genug, um mit seinem hageren Leib hindurchschlüpfen zu können. Bevor er sich mit Corky und den zwanzig liederlichen Teilnehmern der altrömischen Party einschloss, warf er noch einen ängstlichen Blick in den Flur.
»Sag mal, was trägst du da eigentlich?«, fragte der nervöse Pathologe.
Corky drehte sich rundherum und ließ den Schoß des gelben Mantels fliegen. »Modische Regenkleidung. Na, wie gefällt dir mein Hut?«
»Wie bist du in diesem lächerlichen Aufzug am Empfang vorbeigekommen? Wie hast du es überhaupt geschafft, dich hier reinzuschleichen?«
»Zu schleichen war gar nicht nötig. Ich habe einfach meine Referenzen vorgezeigt.«
»Was für Referenzen? Soweit ich weiß, beschäftigst du dich beruflich damit, einem Haufen arroganter Flittchen und hirntoter, blasierter Rotzlümmel was über das geistlose Zeug zu erzählen, das sich moderne Literatur schimpft.«
Wie viele andere Naturwissenschaftler auch hatte Roman Castevet keine allzu hohe Meinung von der Geisteswissenschaft an heutigen Universitäten und von jenen Studenten, die vor einem verspäteten Eintritt auf den Arbeitsmarkt die Wahrheit ausgerechnet in der Literatur suchten.
Statt beleidigt zu sein, stimmte Corky mit Romans giftiger Gesellschaftskritik überein und ging deshalb einfach darüber hinweg. »Die netten Wachleute an eurem Empfang halten mich für einen Pathologen aus Indianapolis, der extra angereist ist, um dich bezüglich einiger äußerst rätselhafter entomologischer Fakten zu konsultieren. Es geht um die Opfer eines Serienkillers, der im Mittelwesten sein Unwesen treibt.«
»Was? Wie hast du denen denn das beigebracht?«
»Ich kenne eine Quelle für ausgezeichnete gefälschte Dokumente.«
Roman schrak zusammen. » Du? «
»Es ist nicht selten ratsam für mich, erstklassige falsche Ausweise mitzuführen.«
»Leidest du unter Wahnvorstellungen, oder bist du bloß bescheuert?«
»Wie ich dir früher schon erklärt habe, bin ich mehr als ein verweichlichter Professor, der ab und zu mit Anarchisten verkehrt, um sich einen Nervenkitzel zu verschaffen.«
»Ach ja?«, sagte Roman verächtlich.
»Ich nutze jede Gelegenheit, um der Anarchie Vorschub zu leisten. Oft gehe ich dabei die Gefahr ein, festgenommen und eingesperrt zu werden.«
»Du bist ja ein wahrer Che Guevara.«
»Viele meiner Aktionen sind ebenso clever und schockierend wie unkonventionell. Du hast doch nicht etwa angenommen, ich brauche die zehn Vorhäute bloß für irgendwelche kranken persönlichen Spielereien, oder?«
»Doch, genau das hab ich angenommen. Als wir uns damals bei der langweiligen Party kennen gelernt haben, bist du mir wie der große Zampano aller Irrsinnigen vorgekommen, ein moralischer
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