Der Wächter
Rolfs augenscheinlichen Henker zu begutachten.
In der Dunkelheit und dem Regen war er jedoch trotz der Vergrößerung nicht in der Lage, irgendwelche aussagekräftigen Einzelheiten der Leiche auszumachen, die ausgestreckt im Gras lag.
Neben dem Toten hockten Beamte der Spurensicherung und hantierten mit wissenschaftlichen Instrumenten und Kameras. In ihren schwarzen Regenmänteln, die sie wie gefaltete Flügel einhüllten, sahen sie aus wie Krähen, die gierig auf Aas einhackten.
In jeder Version der Story, die von den Schwatzmäulern für glaubhaft gehalten wurde, war der Killer von einem Polizisten erschossen worden. Entweder war dieser Cop rein zufällig im richtigen Augenblick auf der Straße vorbeigekommen, oder er wohnte in Rolfs Haus. Möglicherweise war er auch gekommen, um seine Freundin oder seine Mutter zu besuchen.
Was immer hier an diesem Abend vorgefallen war, Corky war einigermaßen zuversichtlich, dass es weder seine Pläne gefährden noch das wachsame Auge des Gesetzes auf ihn lenken würde. Er hatte seinen Kontakt mit Reynerd vor allen, die er kannte, geheim gehalten.
Wahrscheinlich war Reynerd genauso diskret gewesen; schließlich hatten sie gemeinsam Verbrechen begangen und Pläne für weitere geschmiedet. Keiner von beiden hätte irgendetwas zu gewinnen – aber viel zu verlieren – gehabt, wenn er irgendjemandem von der Verbindung erzählt hätte.
Rolf war zwar in vielfacher Hinsicht dämlich gewesen, aber nicht völlig leichtsinnig. Natürlich hätte er rein theoretisch auf die Idee kommen können, bei einer Frau oder seinen beschränkten Freunden Eindruck damit zu schinden, dass er den Mord an seiner Mutter angestiftet hatte oder an einem mörderischen Komplott gegen den größten Filmstar der Welt beteiligt war, aber so weit wäre er nie gegangen. Stattdessen hätte er einfach eine schillernde Lüge erfunden.
Obwohl Ethan Truman inkognito an ausgerechnet diesem Tag vorbeigeschaut hatte, war es unwahrscheinlich, dass Reynerds Tod in irgendeiner Weise mit Channing Manheim und den Sendungen in den sechs schwarzen Schachteln zu tun hatte.
Als Verfechter der Anarchie war Corky davon überzeugt, dass Chaos die Welt beherrschte und dass es im rauen und regellosen Durcheinander des Alltags häufig zu bedeutungslosen zufälligen Zusammentreffen kam. Natürlich verleiteten solche scheinbar zusammenhängenden Ereignisse weniger intelligente Menschen dazu, im Leben Gesetzmäßigkeiten und Sinn zu vermuten.
Corky hingegen setzte seine Zukunft, ja seine ganze Existenz, auf den Glauben, dass das Leben bedeutungslos sei. Er hatte eine Menge ins Chaos investiert, und zu diesem fortgeschrittenen Zeitpunkt hatte er nicht die Absicht, seine Investition infrage zu stellen, indem er sie mit Verlust abwickelte.
Reynerd hatte sich nicht nur als potenziellen Filmstar von historischer Größe gesehen, sondern auch als einen ziemlich bösen Buben, und böse Buben machten sich Feinde. Mehr des Nervenkitzels als des Profits wegen hatte er eine auserlesene Liste von Kunden aus der Unterhaltungsindustrie mit Drogen versorgt, hauptsächlich mit Kokain, Speed und Ecstasy.
Wahrscheinlich waren härtere Burschen als der hübsche Rolf der Meinung gewesen, er wildere in ihrem Revier. Mit einer Kugel im Kopf war er daran gehindert worden.
Corky hatte sich Reynerd tot gewünscht.
Das Chaos hatte gehorcht.
Nicht mehr, nicht weniger.
Zeit für den nächsten Programmpunkt.
Zeit fürs Abendessen, genauer gesagt. Abgesehen von einem Schokoriegel im Auto und einem großen Milchkaffee im Einkaufszentrum hatte Corky seit dem Frühstück nichts zu sich genommen.
An guten Tagen voll lohnender Unternehmungen war ihm sein Wirken Nahrung genug, und dann verzichtete er oft aufs Mittagessen. Nun, nach vielen Stunden nützlichen Tuns, hatte er einen Bärenhunger.
Dennoch verweilte er noch etwas, um dem Chaos zu dienen. Die sechs anwesenden Kinder waren eine Versuchung, der er nicht widerstehen konnte.
Sie waren zwischen sechs und acht Jahren alt. Einige waren besser gegen den Regen und die Kälte geschützt als die anderen, aber alle waren sie fröhlich und ausgelassen. Sie tanzten, spielten und jagten sich in der unwirtlichen Nacht wie Sturmvögel, die für den nassen Wind und den aufgewühlten Himmel geschaffen waren.
Fasziniert von dem Getümmel aus Polizisten und Sanitätern, achteten die Erwachsenen nicht auf ihre Sprösslinge. Und die Kinder waren schlau genug, um zu begreifen, dass sie ihr Geschrei nur unterhalb einer
Weitere Kostenlose Bücher