Der Wächter
ganz bestimmt allein war, fühlte er sich aber dennoch beobachtet.
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Selbst wenn der Himmel aufriss und eine Sintflut aus zähnefletschenden, giftigen Kröten ausspie, selbst wenn der Wind so heftig blies, dass er die Haut blutig peitschte und das ungeschützte Auge blendete, hätte das Schaulustige und Schwatzmäuler nicht davon abgehalten, sich am Schauplatz spektakulärer Unfälle und schockierender Verbrechen zu versammeln. Verglichen mit einer derart katastrophalen Witterung war der anhaltende Nieselregen dieses kühlen Dezemberabends geradezu Picknickwetter für die Meute, die das Elend genoss wie andere ein Baseballspiel.
Auf dem Rasen vor dem Apartmenthaus, das schräg gegenüber dem von der Polizei abgesperrten Grundstück stand, hatten sich zwanzig bis dreißig Bewohner des Viertels versammelt, um Fehlinformationen und blutrünstige Einzelheiten auszutauschen. Es waren hauptsächlich Erwachsene, zwischen denen jedoch auch eine Hand voll Kinder herumtollten.
Die meisten dieser geselligen Geier hatten sich Regensachen übergeworfen oder mit Schirmen gerüstet. Die zwei barfüßigen jungen Männer mit nacktem Oberkörper trugen allerdings nichts als ihre Bluejeans. Offenbar konnte die Abendkühle ihnen nichts anhaben, weil sie mit einem Cocktail illegaler Substanzen voll gepumpt waren und wie in Zitronensaft marinierte Fischfilets vor sich hin köchelten.
Über die Versammlung hatte sich eine Karnevalsatmosphäre gelegt, als erwartete man gleich ein Feuerwerk oder irgendeine Monstrositätenschau.
In seiner glänzenden Gelbheit ging Corky Laputa zwischen den Schaulustigen umher wie eine emsige Hummel, die geduldig ein Häppchen Nektar hier und ein Häppchen da sammelte. Um besser mit der Menge zu verschmelzen und Kontakte zu knüpfen, bot er von Zeit zu Zeit eine Portion Honigersatz feil, indem er sensationelle Einzelheiten über das schändliche Verbrechen erdichtete. Gehört hatte er sie angeblich von den Polizisten, die an der zweiten Schranke am anderen Ende der Häuserzeile Wache hielten.
Bald hatte er erfahren, dass Rolf Reynerd ermordet worden war.
Die Schaulustigen und Schwatzmäuler waren sich nicht sicher, ob der Vorname des Opfers Ralph oder Rafe, Dolph oder Randolph lautete – oder Bob.
Hingegen waren sie sich ziemlich sicher, dass der unglückselige Bursche mit Familiennamen entweder Reinhardt oder Kleinhard geheißen hatte, oder Reiner wie der Filmregisseur, möglicherweise auch Spielberg wie dieser andere berühmte Regisseur, oder Nerdoff beziehungsweise Nordoff.
Einer der jungen Männer mit dem nackten Oberkörper behauptete allerdings steif und fest, alle anderen würden einfach nicht kapieren, dass hier das spanische Wort für »König« als Spitzname im Spiel war. Laut diesem Meister der deduktiven Logik hatte sich der Tote mit dem klangvollen Namen Rolf »Rey« Nerd geschmückt.
Alle waren sie sich jedoch einig, dass der Ermordete ein Schauspieler gewesen sei, dessen Karriere in letzter Zeit einen phänomenalen Aufschwung genommen habe. Er habe soeben die Dreharbeiten zu einem Film abgeschlossen, in dem er den besten Freund oder den schlossen, in dem er den besten Freund oder den jüngeren Bruder von Tom Cruise spiele. Die Paramount oder Dreamworks hätten ihn für eine Hauptrolle an der Seite von Reese Witherspoon engagiert. Warner Brothers habe ihm die Titelrolle in einer neuen Reihe von Batman-Filmen angeboten, und Miramax wolle ihn für ein einfühlsames Drama über einen Sheriff im Texas der Jahre um 1890, der als Transvestit unter den damaligen Vorurteilen gegen Homosexuelle leide. Bei der Universal schließlich hoffe man, er werde mit ihr einen zehn Millionen Dollar schweren Vertrag über zwei Filme abschließen, bei denen er auch für Drehbuch und Regie verantwortlich sein solle.
Im neuen Millennium und in der trivialen Phantasie vieler Leute, die im glamourösen Westen von L. A. wohnten, starben Versager offenbar nie jung. Nur berühmte, reiche und bewunderte Zeitgenossen wurden von einem frühen Tod dahingerafft. Das war so etwas wie das Prinzessin-Di-Prinzip.
Ob der Mann, der Rolf »Rey« Nerd umgebracht hatte, ebenfalls ein Schauspieler an der Schwelle der Berühmtheit war, wusste niemand mit Gewissheit. Der Name des Mörders blieb unbekannt und unverstümmelt.
Unbestreitbar war der Killer selbst niedergeschossen worden. Seine Leiche lag auf dem Rasen vor Rolfs Apartmenthaus.
Zwei Ferngläser kreisten unter den Zuschauern. Corky borgte sich eines davon aus, um
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