Der Wächter
am Weihnachtsbaum vorbei, öffnete den einen der zwei hohen Türflügel und trat aus der Bibliothek in den Flur.
Endlich hörte das Telefon auf, ihn zu verspotten.
Fric lugte erst kurz nach links, dann nach rechts. Obwohl er allein im Flur stand, hatte ihn das Gefühl, beobachtet zu werden, wieder in den Klauen.
Zwischen hunderten von winzigen weißen Lichtlein, die wie Sterne über die dunklen Zweige der Fichte drapiert waren, sangen hinter ihm in der Bibliothek lautlos die Engel. Sie lachten lautlos, bliesen lautlos Trompete; sie glimmerten und glitzerten, sie hingen an ihren Heiligenscheinen oder Harfen, an durch ihre Flügel gezogenen Fäden, an segnend gehobenen Händen oder an ihrem Nacken, als hätten sie alle Gesetze des Himmels gebrochen und wären massenhaft dazu verdammt worden, für immer und ewig an diesem Henkerbaum zu hängen.
34
Der Scotch, den Ethan trank, zeigte keine Wirkung. Offenbar war sein Stoffwechsel dadurch, dass er zweimal an einem Tag den eigenen Tod erlebt hatte, dramatisch beschleunigt worden.
Die Hotelbar mit ihrer Schar selbstverliebter Schickimickis war ein Lieblingsplatz von Channing Manheim, der sich schon zu Beginn seiner Karriere hier herumgetrieben hatte. Unter gewöhnlichen Umständen hätte Ethan jedoch eine Kneipe ohne Glanz und Glamour, dafür aber mit einem wohligen Biergeruch vorgezogen.
Leider gehörten die wenigen anderen Lokale, die er kannte, zu den Stammkneipen seiner ehemaligen Kollegen, und die Aussicht, an ausgerechnet diesem Abend auf einen alten Freund von der Polizei zu treffen, machte ihm Angst.
Wenn er sich auch nur eine einzige Minute mit einem früheren Kumpel unterhielt, würde der merken, wie aufgewühlt Ethan war, egal, wie geschickt er versuchte, eine fröhliche Miene zur Schau zu tragen. Und dann würde kein Cop, der etwas auf sich hielt, der Versuchung widerstehen können, Ethan entweder auf Umwegen oder auch unverblümt die Ursache seines Kummers aus der Nase zu ziehen.
Im Augenblick wollte Ethan jedoch nicht über das reden, was er erlebt hatte. Er wollte erst einmal darüber nachdenken .
Nun, das stimmte nicht ganz. Statt über die Geschehnisse nachzudenken, wäre es ihm lieber gewesen, sie zu leugnen. Sich einfach davon abzuwenden. Das Gedächtnis abzuschütten und sich zu betrinken.
Mit dem Leugnen war es jedoch nichts. Das lag an den drei Silberglöckchen aus dem Rettungswagen, die neben Ethans Whisky auf der Theke funkelten. Da müsste er auch die Existenz des Yetis leugnen, wenn ihm ein ausgewachsenes Exemplar auf dem Rücken hockte.
Er hatte also keine andere Wahl, als sich mit dem zu beschäftigen, was geschehen war, was ihn jedoch sofort in eine gedankliche Sackgasse führte. Nicht nur, dass er nicht wusste, was er über diese merkwürdigen Vorfälle denken sollte, er wusste noch nicht einmal, wie er darüber nachdenken sollte.
Offensichtlich hatte Rolf Reynerd ihm nicht in den Bauch geschossen. Trotzdem würde die Laboruntersuchung bestätigen, dass das Blut unter seinen Fingernägeln von ihm selbst stammte, das war ihm intuitiv klar.
Die Erinnerung daran, von einem Laster überfahren und für immer gelähmt worden zu sein, war in all ihren grässlichen Einzelheiten noch immer so lebendig, dass er einfach nicht glauben konnte, alles nur phantasiert zu haben. Eine Droge, welcher Art auch immer, die man ihm ohne sein Wissen verabreicht hatte, konnte etwas Derartiges nicht bewirken.
Ethan bestellte sich einen zweiten Drink, und als der Scotch auf frisches Eis in einem neuen Glas gluckerte, zeigte er auf die Glöckchen und fragte den Barkeeper: »Sehen Sie das da?«
»Ich liebe diesen alten Song«, sagte der Barkeeper.
»Was für einen Song?«
» Silver Bells .«
»Das heißt, Sie sehen sie?«
Der Barkeeper zog eine Augenbraue hoch. »Ja. Drei Glöckchen an einem Faden. Wie viele sehen Sie denn?«
Ethan verzog den Mund zu einem Lächeln, das hoffentlich weniger dämlich aussah, als es sich anfühlte. »Auch bloß drei. Keine Sorge, ich werde den Straßenverkehr später nicht gefährden.«
»Ach ja? Dann sind Sie wirklich was Besonderes.«
Ja , dachte Ethan, was Besonderes bin ich auf jeden Fall . Schließlich bin ich heute schon zweimal gestorben , aber trotzdem noch immer in der Lage , mir einen hinter die Binde zu kippen . Dabei fragte er sich, wie hurtig der Barkeeper ihm den Whisky wohl aus der Hand reißen würde, wenn er das laut aussprach.
Da er nüchtern keine Klarheit fand, schlürfte er langsam seinen Scotch, um
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