Der Wächter
in der Trunkenheit etwas Klarheit zu finden.
Zehn oder fünfzehn Minuten später, noch immer stocknüchtern, fiel sein Blick auf Dunny Whistlers Reflexion im Spiegel hinter der Theke.
Ethan drehte sich ruckhaft auf seinem Hocker um. Der Whisky schwappte aus dem Glas.
Dunny bahnte sich gerade einen Weg durchs Getümmel und hatte schon fast die Tür erreicht. Es handelte sich nicht um ein Gespenst, immerhin blieb eine der Kellnerinnen stehen, um ihn vorbeizulassen.
Ethan sprang vom Hocker, dachte gerade noch an die Glöckchen, schnappte sie sich von der Theke und eilte auf den Ausgang zu.
Einige der Gäste, die dabei waren, von Tisch zu Tisch zu wandern, standen gerade in den Zwischenräumen. Ethan musste an sich halten, sie nicht beiseite zu stoßen. Sein »Entschuldigung!« kam in einem derart scharfen Ton, dass die Leute ihn verärgert anstarrten, aber sein Gesichtsausdruck brachte sie sofort dazu, ihren Tadel zu verschlucken.
Als Ethan aus der Tür der Bar trat, war Dunny verschwunden.
Auf dem Weg durchs Foyer sah Ethan Gäste an der Rezeption und am Informationstisch stehen, andere waren unterwegs zu den Aufzügen. Dunny war nicht unter ihnen.
Zu Ethans Linken ging das mit Marmor verkleidete Foyer in einen riesigen, mit Sofas und Sesseln ausgestatteten Salon über. Hier konnten die Gäste ein frühes Abendessen zu sich nehmen; zu dieser späten Stunde gab es Alkoholisches für alle, die eine ruhigere Atmosphäre als in der Bar vorzogen.
Ein flüchtiger Blick genügte, um festzustellen, dass Dunny Whistler nicht in den Salon gegangen war.
Die Drehtür des Haupteingangs zu Ethans Rechten kam langsam zur Ruhe. In den Viertelkreisabteilen war niemand zu sehen, aber offenbar war gerade eben jemand hindurchgegangen.
Ethan eilte durch die Tür in die kalte Nacht unter dem Vordach der Zufahrt.
Mit Regenschirmen bewaffnet, begleiteten der Portier und eine Riege emsiger Pagen die Gäste zu den bereitstehenden Wagen oder holten die Neuankömmlinge ab. Sportwagen, schicke Geländewagen und Limousinen konkurrierten um die beste Position auf den überfüllten Fahrspuren.
Auch bei den Gästen, die auf ihren Wagen warteten, war Dunny nicht zu sehen. Offenbar eilte er auch nicht in Begleitung eines Pagen durch den strömenden Regen.
Unter den mit laufendem Motor wartenden Fahrzeugen befanden sich mehrere Mercedes in verschiedenen dunklen Farben, aber Ethan war sich ziemlich sicher, dass keiner davon Dunny gehörte.
Angesichts des Geräuschpegels, den das Geplauder der unter dem Vordach stehenden Gäste, die Automotoren und das Rauschen und Zischen des Regens verursachten, hätte Ethan das Klingeln seines Handys womöglich überhört. Da es jedoch auf Vibrationsalarm gestellt war, spürte er es in der Jackentasche.
Während er immer noch suchend in die Nacht blickte, nahm er den Anruf entgegen.
»Hör mal, ich muss dich sofort sprechen, Mann«, sagte Hazard Yancy, »und zwar an einem Ort, wo sich die oberen Zehntausend nicht gerade die Klinke in die Hand geben.«
35
In Gesellschaft von zwei älteren Herrschaften nimmt
Dunny den Hotelaufzug in den dritten Stock. Die beiden halten Händchen wie ein junges Liebespaar.
Als Dunny das Wort »Jubiläum« hört, erkundigt er sich, wie lange sie schon verheiratet sind.
»Fünfzig Jahre«, sagt der Mann und glüht vor Stolz, dass seine Braut von damals sich entschlossen hat, den Großteil ihres Lebens an seiner Seite zu verbringen.
Die beiden sind aus Scranton, Pennsylvania, nach Los Angeles gekommen, um ihre goldene Hochzeit mit ihrer Tochter und deren Familie zu feiern. Den Aufenthalt in der Honeymoon-Suite des Hotels hat ihnen die Tochter geschenkt. »Da ist es so schick, dass wir uns kaum trauen, uns auf die Sessel zu setzen«, sagt die alte Dame.
Von L. A. werden sie nach Hawaii fliegen, nur sie beide, um dort eine romantische Woche in der Sonne zu verbringen.
Sie wirken ganz ungezwungen und sympathisch und sind richtig verliebt ineinander. Das Leben, das sie sich aufgebaut haben, ist genau das, was Dunny so lange verachtet, ja verhöhnt hat.
In den letzten Jahren hat er sich nach solchem Glück allerdings mehr gesehnt als nach allem anderen. Die gegenseitige Hingabe und Treue der beiden, die Familie, die sie gegründet haben, ihr beiderseitiges Bemühen, die Erinnerung an gemeinsam bestandene Herausforderungen und schwer erkämpfte Siege – das ist das, worauf es am Ende ankommt, anders als das, wonach Dunny mit zielbewusster Strategie und brutaler Taktik
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