Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
aus dem preußischen Militärdienst desertiert ist?
In der Vorrede der als Quellensammlung unverzichtbaren, intellektuell bedeutungslosen und ideologisch verrannten Seume-Studie von Oskar Planer und Camillo Reißmann von 1898 und 1904 wird die nationale Trommel besonders laut geschlagen, immer mit verächtlichem Blick über den Rhein: »Seumes Hauptbedeutung liegt unstreitig auf politischem Gebiete, in seiner Wirksamkeit als Charakter und deutschnationaler Patriot. Zwar huldigte auch er im Anfange dem von Frankreich ausgehenden Gedanken eines allgemeinen Weltbürgertums, brach aber mit jenen Träumereien, als er sah, dass die Franzosen einer vernünftigen staatlichen Freiheit selbst nicht fähig waren, und wendete den Blick auf die nächstliegenden, der Lösung harrenden Aufgaben im Vaterlande. […] Es war Seume vom Schicksal nicht beschieden, die Saat, die er ausstreute und den Funken nationaler Begeisterung, den er weckte, zur Flamme emporlodern zu sehen, aber sein Geist blieb wirksam in unserm Volke.«
Seume war nicht wirklich Demokrat, dafür hing er zu sehr an der Idee einer alles leitenden Instanz, und schon gar kein Jakobiner. Aber nur ein Denken unter der Pickelhaube konnte ihm dermaßen die Worte im Mund oder die Sätze auf dem Papier verdrehen und den Patriot ohne Vaterland als borussischen Franzosenfresser aus seinem böhmischen Grab holen.
Die Nazis wussten es besser und ließen ihn lieber in Ruhe. Mit ihm war völkisch kein Staat zu machen. Für ein Leben im Modus aktiver Selbstgleichschaltung hätte seine notorische Widerspenstigkeit ohnehin nicht getaugt, auch vor der Rolle des passiven Mitläufers wäre er davongerannt.
Seume vermag bis heute zu faszinieren, weil er lebte wie er schrieb und schrieb wie er lebte: abenteuernd und heimatlos im Denken, Fühlen, Handeln und sogar noch im Nichthandeln, im Neinsagen und Nichtsmehrsagen. Er war kein epochaler Mensch, lebte (und litt) aber in einer Menschheitsepoche, in der überlieferte Werte, religiöse Traditionen, sozial ererbte Gewohnheiten, einstmals unantastbare Privilegien und alte Herrschaftsrechte in einer Nachdrücklichkeit und Geschwindigkeit infrage gestellt wurden wie niemals zuvor. Damals öffnete sich die Zukunft, die noch immer unsere Gegenwart ist und weiter unsere Aufgabe bleibt. Seume galt in seiner Zeit nicht als treibende Kraft, und kann auch uns nicht als solche gelten, weder in seinen Schriften, noch in seinem Handeln. Er litt (und lebte) in seiner Zeit als Zeuge, machtlos, wo er beobachtete, und ohne Einfluss, wo er teilnahm oder gezwungen wurde, teilzunehmen. Seine eigene Zerrissenheit entsprach der Zerrissenheit der Epoche, wo so viel Neues entstand und so viel Altes zugrunde ging. Aus seiner Persönlichkeit konnte er so wenig heraus wie aus seiner Zeit, und zugleich fand er in beides nie recht hinein. Seine Gemütsmischung aus Fragilität und Zähigkeit befähigte ihn wie nur wenige andere Schriftsteller, sich sein Leben im Wortsinn selbst zuzuschreiben – und zwar ohne die bildungsromanhafte und bildungsromantische Illusion, des Menschen Schicksal sei leicht wie die Feder, die man in die Hand nimmt, um darüber zu schreiben.
Leser, kommst Du nach Teplice, besuche den Seume-Park. Er ist leicht zu finden. Man muss bloß nach dem Spielcasino fragen. Erstaunlicherweise trägt es ebenfalls den wenig glückverheißenden Namen. In einem Parkeckchen in der Nähe steht eine Büste auf dem Sockel. Nebenan bröckelt eine alte Kapelle vor sich hin. Hinter der Kapelle befindet sich das, was man aus alter Anhänglichkeit ans Sinnbild vom Leben als Wanderschaft eine ›letzte Ruhestätte‹ nennen mag. Manchmal sitzen Mädchen auf dem gewölbten Grabstein und telefonieren.
Zeitläufe und Lebenslauf
Die Datierungen folgen dem Gregorianischen Kalender. Dies gilt auch für Russland, wo dieser Kalender erst ab Februar 1918 Anwendung fand, und für Frankreich zwischen Herbst 1792 und Ende 1805, als der Gregorianische durch den Republikanischen Kalender ersetzt worden war.
Die Daten zu Seume und die Titel seiner Publikationen sind gefettet.
1763
Der Friede von Hubertusburg zwischen Preußen, Österreich und Sachsen beendet den Siebenjährigen Krieg (15. 2.). Im parallel geführten Kolonialkrieg zwischen Frankreich und England behält England die Oberhand in Nordamerika.
29. Januar: Geburt Seumes als erstes von fünf Kindern der Eheleute Andreas und Regina Christina Seume in Poserna (Sachsen).
1764
Auf Druck Katharinas II. von
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