Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
schubst Seume im Vorwort in diese Richtung: »Diese Blätter sind doch ein schönes Zeugnis für unsers verewigten Freundes religiöse Weltansicht und jenen frommen Sinn, den er wohl in seinen Handlungen, aber nicht in seinen übrigen Schriften anderen Inhalts auszusprechen Gelegenheit hatte.«
Will der Spitzkopf den Plattköpfen damit sagen, dass Seume »in seinen übrigen Schriften« zwar anders argumentiert, es aber nicht so gemeint habe? Sollte Pfarrer Schieck mit einem Vorwort sämtliche Schriften Seumes erledigen und der apokryphe Revolteur doch nichts weiter als ein harmloser Polterer gewesen sein? Zum Glück stellte Sachsens Polizei Seumes Ehre wieder her. Die von Schnorr besorgte Neuausgabe des Spaziergang , wegen der aufgenommenen Apokryphen vorsichtshalber ohne Verlagsangabe erschienen, zog gleichwohl bei Hartknoch in Dresden eine Hausdurchsuchung nach sich. Schnorr und Hartknoch konnten sich mit der Ausrede herauswinden, sie hätten das Material nach bloß oberflächlicher Sichtung zum Druck nach Jena befördert, und wer dort für die Zensur zuständig gewesen sei, wisse man nicht. Verleger Hartknoch und Schnorr, als Akademiedirektor inzwischen eine Persönlichkeit in Dresden, wurden nicht weiter belangt, zumal bei der Hausdurchsuchung keine Exemplare mehr gefunden worden waren. Fünf Jahre später erinnerte ein heute nicht mehr ermittelbarer Rezensent in den Ergänzungsblättern zur Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung an den Vorfall. Zu den Apokryphen heißt es, ihre Gedanken seien zwar auch schon im Spaziergang zu finden, versteckten sich dort aber in »gutmütigen Umgebungen«, während sie »hier lakonisch, unmutig, zornig, scharf, beißend, Schlag auf Schlag, und zum Teil mit Unermüdlichkeit vielfach gewendet und wiederholt, ein feindseliges Ansehen gewinnen.«
Das war durchaus nicht lobend gemeint. Doch mag nach dem Pfarrersvorwort die üble Nachrede von damals heute der Wiederherstellung von Seumes Nachruhm als politischer Schriftsteller dienen.
In den ersten Jahrzehnten nach Seumes Tod dominierte das Image des »herrlichen Kernmenschen«, wie Böttiger, des »edlen deutschen Kraftmanns«, wie Elisa es ausgedrückt hatte. Ganz auf dieser Linie schrieb 1837 der nicht ganz vierundzwanzigjährige Friedrich Hebbel in seinem Tagebuch über den Spaziergang : »Ein Buch, wie ein dunkler Strom, der nicht die Dinge, sondern ewig sich selbst widerspiegelt. Man muss recht viel Interesse an dem Verf. nehmen, wenn sein Buch etwas Interesse gewähren soll. Aber, wer nähme denn auch an Seume, diesem Eisen-Abguss beharrlichen Männer-Willens, kein Interesse.«
So gelesen wäre der Spaziergang nicht die Reportage einer Reise in die Welt, sondern die einer Reise ins Innere. Dies stimmt – und stimmt auch wieder nicht. Die literarische Ambiguität zwischen Pilgerbericht, Sozialreportage und Konfession macht die ästhetische Qualität des Buches aus. Es ist ein Chamäleon und passt sich der Gemütsfärbung seiner Leser an.
In Hebbels Tagebüchern findet sich die Bemerkung: »Die Aufgabe des glücklichen Menschen ist, sich zu entwickeln; die des unglücklichen, sich zu vernichten . Ganz gewiss!« In den Nachrufen ist oft (und gern?) vom unglücklichen Seume die Rede. Und zweifellos gehört er nicht zu den glücklichen Selbstentwicklern, als deren größter dem deutschen Bürgertum bis heute Goethe gilt, sondern auf die Seite derer, die bei der Selbstfindung verloren gehen – sich und anderen.
Das Image, das Seume auf ein sich selbst verzehrendes Kraft- und Originalmenschentum festlegte, verkitschte im Biedermeier zur schwächlichen Idylle. 1867 reimte Albert Traeger in der Gartenlaube : »Verlassen bist Du, Armer, nun nicht länger,/Die Eiche hütet treulich Deinen Traum,/Du warst es wert: es darf der deutsche Sänger/Wohl Frieden finden bei dem deutschen Baum.«
Vier Jahre später wurde in Versailles ein preußisch-deutsches Reich gegründet, und auf den deutschen Kitsch folgte der preußische Kult. Im Klima des aufschwellenden wilhelminischen Triumphalismus wurde Seume zum deutschnationalen Vorkämpfer umgedeutet (und herabgewürdigt). Bei der Enthüllung des 1895 in Töplitz errichteten Denkmals machte man ihn, den kleinen Mann mit dem schadhaften Fuß, zum »Vorläufer des Turnwesens« und rechnete ihn »zu den Erneuerern unseres Volkstums«. Kaiser Wilhelm soll für das Denkmal gespendet haben. Ob er wusste, dass dieser neu ernannte Nationaltote zu Lebzeiten ein unsicherer Kantonist gewesen und
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