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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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Möglichkeiten. In Richtung Süden erreichte man die zugeschüttete Schlucht von Babij Jar. Im Norden täuschten jene Teile einer Betonmauer, die Konrad vor Wochen am Steilhang entdeckt hatte, eine Barriere vor. Tatsächlich führte dort eine steile Lehmspur, kaum ein Pfad, durchs Gestrüpp nach unten zur Telihastraße. Bei Regen würde sie rutschig sein, sie beide würden hinunterschlittern und mit ihren lehmverdreckten Sachen auffallen.
    Man konnte das Gelände auch einfach über die Hauptzufahrt verlassen, am leeren Schrankenhäuschen vorbei. Wenn man den Trampelpfad durchs Gebüsch nahm, würde auch das nicht auffallen. Allerdings sah er jetzt, was für ein reger Verkehr tagsüber vor dem Verwaltungsgebäude herrschte. Schwestern und Ärzte eilten mit Akten unter dem Arm zwischen den Häusern hin und her.
    Die vierte und beste Möglichkeit war die Treppe mit dem grün gestrichenen Geländer, die von der Kathedrale steil bergab zur Telihastraße führte. Das war der kürzeste Weg, und Konrad konnte mit dem Auto unten an der Straße nicht lange warten. Es gab keinen Parkstreifen, sie durften nicht auffallen, schon gar nicht der Polizei.
    Wie er so auf seiner Bank im Grünen saß, den halbrunden Klinkeranbau des Vorlesungssaals im Blick, und alles zu observieren glaubte, merkte er lange nicht, dass mehr oder weniger die ganze Klinik auch ihn beobachtete. Er hatte gar nicht gesehen, dass der schwere Mann mit den gelblichen Mundwinkeln, der ihm bei seinem ersten Besuch im Gang auf den Leib gerückt war, an ihm vorbeigewandert war, zwar in gehörigem Abstand, aber immer wieder, und ihm jedes Mal einen raschen Seitenblick zuwarf. Konrad bemerkte ihn erst, als er näher kam und sich zu ihm auf die Bank setzte. Auch jetzt atmete der Mann wieder langsam und schwer durch die Nase. Sein Atem roch nach Nelke.
    «Schöner Tag heute», sagte Konrad.
    Im Augenwinkel sah er Nikiforows weißen Kopf auf und ab schaukeln, auch sein Oberkörper bewegte sich leicht vor und zurück.
    «Das Schlimmste ist das Warten», sagte Nikiforow.
    Konrad ließ den Satz eine Weile auf sich wirken und fragte dann: «Worauf?»
    Der Mann schnaufte heftig, erhob sich mühevoll, stand vor ihm und fuchtelte hilflos mit den Armen. Dann entfernte er sich.
    Diese Menschen hier spürten etwas. Sein Schlendern und untätiges Herumsitzen machte sie unruhig, die geordneten Bahnen, die die Patienten unter der Wirkung ihrer Beruhigungsmittel zogen, zeitlupenhaft, gespenstisch wie Zombies, gerieten durcheinander. Ihr Gang beschleunigte sich auf beinahe drollige Art, ihre Psyche war für so ein Tempo nicht konditioniert. Infolgedessen kamen sie sich an Stellen in die Quere, an denen sie sich sonst immer aus dem Weg gegangen waren. Wenn Konrad mit geschlossenen Augen das Gesicht in die Sonne hielt, konnte er am Geräusch der Schritte sagen, ob sich ein Patient näherte oder wer anders – Klinikmitarbeiter oder Besucher waren an ihrem rascheren, energischen Gang zu erkennen.
    Er stand auf und schritt den Weg ab, den Arkadij zur Treppe nehmen musste.
    «Mann, gebt eine Zigarette!», rief die Frau im Erdgeschoss durch das Fenstergitter, als Konrad vorbeikam. Diesmal klang der Ruf anders, wie ein Alarm. Als sollte sie in der nächsten Stunde hingerichtet werden. Ein Schrei nach Sex. Es war bestimmt sehr schwer für diese Frauen, hier eingesperrt zu sein. Beim nächsten Mal, sagte er sich, würde er ihr wenigstens Zigaretten mitbringen.
     
    Andere Patienten hatten sich alles zurechtgelegt und taten sich leichter. Da war die kleine, hagere Frau mit dem Kinderwagen, deren ewigen Spruch er längst kannte. Statt ihm auszuweichen wie sonst, trat sie auf ihn zu.
    «Ermordet und ausgetauscht, alle ausgetauscht.»
    Dabei blickte sie haarscharf an ihm vorbei, ängstlich und doch wild entschlossen, sich von ihrer Wahrheit nicht abbringen zu lassen.
    Wer, von wem?, hatte Konrad früher noch gutmütig gefragt.
    «Ermordet und ausgetauscht.»
    «Wer denn?»
    «Wissen Sie nicht?»
    «Nein.»
    Die Ukrainer meinte sie, alle ausgetauscht.
    «Es gibt keine echten Ukrainer mehr. Alle ausgetauscht.»
    Und von wem wohl?
    «Alle ersetzt durch Ukrainisch sprechende Russen», zeterte sie.
    «Ja, aber wer soll das getan haben, und warum?», beharrte Konrad. «Und wodurch unterscheidet sich ein Ukrainisch sprechender Russe von einem Ukrainer?»
    Durch seinen Mut, hätte Svetlana gesagt.
    Im Blick der Frau zuckte etwas zwischen Todesangst und Hass, aber statt ihm ins Gesicht zu springen, wie er

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