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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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Svetlana musste zum Einkaufen gegangen sein. Konrad packte seine Utensilien in die Reisetasche, die Zahnbürste, das gewaschene Hemd. Er sah sich noch einmal um, ob irgendetwas von ihm in der Wohnung liegengeblieben war. In der Küche setzte er sich auf den Stuhl, der so viele Tage sein Stuhl gewesen war, und geriet ins Nachdenken. Bei geschlossenen Fenstern war es immer still in der Wohnung, man hörte nur die Kuckucksuhr im Wohnzimmer ticken.
    Er warf einen letzten Blick in das Kinderzimmer. Arkadijs Auto stand noch auf dem Tisch, er stopfte es als Letztes in seine Reisetasche.
    Dann fiel ihm Jurijs Mauser ein.
    Er schlich ins Bad, kletterte auf den Wannenrand und griff in den Spülkasten. Tastete an einer glitschigen Schicht von Pilz oder Algen entlang und erschrak beinahe, als er an der hinteren Wand etwas Hartes, Kaltes zu fassen bekam. Mit Klebeband befestigt, hing es knapp über dem Wasserspiegel. Er hob es heraus, es war tatsächlich eine Pistole. Stählern und real das, was er bisher nur aus den Behandlungsprotokollen kannte. Vermutlich nicht mehr funktionsfähig. Sie musste schon Jahre dort gehangen haben, das Metall hatte einen weichen, rotbraunen Film, der sich mit dem Finger abreiben ließ. Das Magazin klemmte, die Waffe war völlig verrostet. Er ließ sie in seine Jackentasche gleiten und spülte.
    Vorsichtig öffnete er die Wohnungstür und horchte ins Treppenhaus hinaus, nicht, dass Svetlana gerade jetzt mit ihren Einkäufen hochkam. Aber alles war still. In diesem Moment steckte der Kuckuck seinen hässlichen kleinen Kopf aus dem Loch und krähte, er schloss rasch die Tür.
    Er legte den Brief auf den Küchentisch, nahm seine Tasche und stand wieder im Flur, als er hörte, wie die Tür des elterlichen Schlafzimmers aufging, ganz hinten im Flur. Svetlana trat aus dem Dunkel heraus, verschlafen blinzelnd. Sie trug ihre graue Strickjacke und drückte die verschränkten Arme an den Körper, als wäre ihr kalt. Sie legte sich sonst nie am Nachmittag hin.
    «Wie spät ist es?»
    «Ich weiß nicht.»
    Sie sah seine Reisetasche.
    «Sie wollen verreisen?»
    «Ich dachte, Sie wären einkaufen.»
    Sie kam auf ihn zu, kam näher als sonst, sie berührte ihn fast mit der Schulter, als suchte sie seine Nähe. So wie damals, als er sie auf dem Friedhof untergehakt hatte. Ihn überkam der Wunsch, diese kleine Frau zu umarmen. Er hatte ja nichts gegen sie. Aber er hielt an sich.
    «Ich war plötzlich so müde», sagte sie. «Kommen Sie, ich mache uns einen Tee.»
    «Ich hätte mich natürlich noch mal gemeldet.»
    «Einfach so gehen wollten Sie? Ohne ein Wort?»
    «Das ist doch nicht mehr wichtig.»
    «Ich werde Ihnen zeigen, was wichtig ist. Legen Sie Ihre Hand auf meinen Bauch.»
    Selbst jetzt war er noch bereit, auf ihre seltsamen Bedürfnisse einzugehen. Vielleicht konnte er der Situation eine versöhnliche Wendung geben, vielleicht kam er noch lebend hier raus, wenn er sich darauf einließ. Er legte die flache rechte Hand dicht unter ihren Busen. Der kleine Finger berührte den harten Rand, die eingenähte Metallspange ihres Büstenhalters und spürte den Widerstand, die lastende Schwere. Er fühlte, wie ihr Atem die Brust hob.
    «Nein, tiefer.» Verständnisvoll schob sie seine Hand weiter nach unten, dorthin, wo der Bauch sich unterhalb des Gürtels wölbte. «Spüren Sie etwas?»
    Warm war es dort. Mehr nicht.
    «Etwas bewegt sich.»
    Sogar im Halbdunkel des Flures war zu sehen, wie sie errötete.
    «Was soll sich da bewegen?»
    «Etwas grummelt.»
    «Das Sauerkraut.»
    «Ach so.»
    «Nein. Ich meine, dort war er.»
    «Wer?»
    Sie schaute ihn an.
    «So einer wie Sie. Nur nicht ganz so dumm.»
    Sie hob die Hand und strich ihm über den Kopf. Dabei kam sie an das Pflaster an der Schläfe: «Ist das immer noch nicht weg?»
    «Nein, das ist jetzt auch nicht mehr wichtig. Ich muss …»
    «Sie müssen gar nichts. Sie bleiben.»
    «Ich kann nicht. Sie vergessen das Auto», sagte Konrad.
    «Scheißauto», sagte Svetlana mit einer ungewohnt rauen Stimme, als wäre es nicht sie, sondern ein Mechanismus in ihrer Kehle gewesen. Ebendas hatte ihn manchmal an ihr erschreckt, diesmal nichts Schlüpfriges, sondern etwas Grobes. «Sie wissen doch, dass das Auto gar nicht existiert. Sie werden ja wahnsinnig.»
    Und blickte ihn dabei mütterlich an.
    Ja, dachte er, das hättest du gern, dass ich wahnsinnig werde wie dein Arkadij, und er spürte ein Kribbeln rund um den Kopf. Als hätte er einen Hut auf und die Krempe

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