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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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Lautsprechern in den Ästen dröhnte, aus einem Wagen wurden Coca-Cola und Hamburger verkauft. Unten an der Straße rauschte der Verkehr. Er hatte sich auf eine Bank gesetzt, die Augen geschlossen und versucht, alles Störende zu vergessen und etwas von der Eigenheit dieses Ortes zu spüren. Da war nichts. Nur die wummernden Bässe und der Geruch von Bratwurst. Was hier geschehen war, wusste er ausschließlich vom Kopf her.
    «Hier, sehen Sie, ein Foto aus der Schlucht», sagte Guzman.
    Konrad betrachtete den Haufen von nackten Leichen in einer langen, rechteckigen Grube. Am Rand standen einige Männer in Soldatenmänteln. Ihre Empfindungen waren nicht erkennbar, dafür reichte die Auflösung nicht. Ganz oben in der Grube, über allen anderen Leibern, lag eine nackte Frau, deren helle Haut sich vom grauen Einerlei des Schwarzweißfotos abhob. Sie fiel ihm sofort auf, weil sie so gut gebaut war, und Konrad stellte erschrocken fest, dass ihre weiblichen Formen, die festen Hinterbacken und die schlanke, gewölbte Linie des Rückens, etwas sehr Sexuelles hatten, das ihm, ja, das ihm gefiel. Sie hatte noch nicht viel vom Tod. Er durfte diese ermordete Frau nicht begehrenswert finden, das verbat sich. Das dampfte noch alles, wie die alte Krankenschwester Halyna formuliert hatte.
    «Eine schöne, kräftige Frau, nicht wahr?», sagte Guzman in diesem Moment, und Konrad atmete auf. Der Psychiater verblüffte ihn aufs Neue mit der Angstlosigkeit seines Denkens. Was er sich verbieten wollte – Guzman sprach es einfach aus.
    «Man kann ihr Gesicht nicht sehen, aber vielleicht ist das ganz gut so. Wer weiß, wie es zugerichtet ist. Vielleicht hat sie auch Kinder gehabt. Vielleicht liegen sie auch da, unter ihr, in diesem Berg von Leichen? Womöglich war sie eine Prostituierte. Wissen Sie, dass die Deutschen im Zentrum von Kiew ein Freudenhaus eingerichtet hatten? In den letzten Tagen, kurz bevor die Rote Armee 1943 den Dnjepr überschritt – nach erbitterten Kämpfen um die Brückenköpfe – und die Stadt zurückeroberte, wurden einhundert dieser Frauen, die dort gefangen gehalten wurden, in Gaswagen umgebracht und nach Babij Jar gefahren. Duschegubka nannte man diese Wagen, Seelentöter. Manchmal erfolgte die Vergasung erst während der Fahrt zur Schlucht. Sie haben von den Wagen gehört, nicht? Vorläufer der Gaskammern, auf vier Rädern. Eine praktische Erfindung.»
    Auch das durfte nur Professor Guzman sagen. Er klappte den Bildband zu. Dann, als hätte der Gedanke erst noch in ihm arbeiten müssen:
    «Olha hatte also einen Sohn. Verstehen Sie, was das bedeutet?»
    «Ja. Ich vermute, er hat das Auto.»
    Guzman stutzte.
    «Wenn Svetlana das gewusst hat, muss es sie bis aufs Blut verletzt haben. Eigentlich hätte sie ihren Arkadij dann gerade gebrauchen können, zum Verhätscheln. Um dem leiblichen Kind des Ehemannes etwas entgegenzusetzen. Ihm ihre Verachtung zu zeigen. Stattdessen hat sie ihn wie ein Objekt zur Behandlung abgegeben. Hier habt ihr meinen Sohn, er hat ein psychisches Problem, er schreit und beißt, macht was mit ihm. Das verstehe ich nicht. Da fehlt mir etwas.»
    «Sie hatte ja jemanden anderen, den sie lieben konnte.»
    «Ach?»
    «Allerdings jemanden, der nie zur Welt gekommen ist.»
    Sie redeten noch lange, bis in den einbrechenden Abend. Guzmans Frau atmete die ganze Zeit ruhig.
    Als Konrad aufstand, fragte Guzman:
    «Sie fahren keinen grünen Toyota?»
    «Einen Toyota? Nein.»
    «Jedes Mal, wenn Sie herkommen, parkt so ein Auto vor dem Haus oder auf dem Hof.»
    «Was heißt das?», fragte Konrad.
    «Ich dachte am Anfang, es wäre Ihr Wagen. Aber heute stand ich zufällig auf dem Balkon und sah Sie zu Fuß vom Platz des Sieges kommen. Der grüne Toyota stand trotzdem wieder hier. Das kann Zufall sein, ich wollte es Ihnen sagen. Nach langjähriger sowjetischer Erfahrung habe ich einen Blick dafür.»
    Das war das letzte Mal, dass Konrad Professor Guzman sah.
     
    Als er nach diesem Gespräch zum Lemberger Platz kam, war Svetlana für ihn verdorben, er konnte es nicht rückgängig machen. Nicht nur das böse Weiblein aus der Kirche, auch das grünliche, unsaubere Wasser des Plastikbeutels, in dem der Fisch schwamm, trübte ihr Bild. Sie war jetzt eine Patientin, denn Guzman hatte sie analysiert. Sie konnte noch so betont fröhlich aus der Küche rufen:
    «Erfolgreich?»
    Als ahnte sie schon etwas.
    «Augenblick», rief er zurück und brachte seine Sachen ins Zimmer, um ihr nicht sofort unter die Augen

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