Der wahre Sohn
es auch wiederfindet. In seinem Ärger hätte Konrad sich jetzt gern zurückgelehnt – in den Westen, seine Herkunft. Gerade wollte er sich wieder als Deutscher fühlen, da merkte er, dass er beim Zurücklehnen ins Leere fiel – in die Leere, die seine Mutter hinterlassen hatte. Halt bot auch der wortkarge Vater nicht, der bis zuletzt stumm an der Unsicherheit gelitten hatte, dass er vielleicht gar nicht Konrads richtiger Vater war. Er hatte ihn trotzdem gut behandelt.
Konrad machte einen letzten Versuch. Er überwand sich und legte Arkadij die Hand auf die Schulter. Unter dem synthetischen, regenfeuchten Anzugstoff spürte er die knochige Schulter, kein angenehmes Gefühl, in keiner Hinsicht. Aber Arkadij zuckte nicht zusammen. Er rührte sich überhaupt nicht, reagierte nicht. Leicht angewidert zog Konrad seine Hand von diesem unbeweglichen Körper zurück. Er stand noch ein paar Sekunden da, dann wandte er sich ab und ging. Als er schon ein gutes Stück vom Grab entfernt war, rief Arkadij: «Kannst rauskommen!»
Er meinte nicht ihn. Offensichtlich wurde er hier nicht mehr gebraucht.
Arkadij war am Ziel seiner Träume. Svetlana war umgeworfen, lag da, eindeutiger hätte Konrad nicht Stellung beziehen können. Süden war Süden, Norden Norden. Ihre Energie – wohin entleerte sie sich jetzt? So ziellos, ungesteuert, am Boden? Er musste weg. Wer oder was blieb ihm noch?
Einige der alten Frauen blieben bei Arkadij, andere folgten ihm aus dem Friedhof. Sie redeten so durcheinander, wie sie liefen.
«Haben Sie damals schon hier gelebt, als Olha zurückkam?», fragte Konrad, um auf dem Weg zum Auto nicht unhöflich zu schweigen. Jetzt begannen die Frauen zu erzählen, sie wollten gar nicht mehr aufhören. Ja, gewiss doch, das muss 1946 gewesen sein. Nein, 1947 , rief eine andere dazwischen. Nein, Olha war achtundzwanzig und hochschwanger. Sie kam mit diesem kugelrunden Bauch. Das war nicht zu übersehen.
Zu wem ist sie denn gegangen? Hatte sie Verwandte auf dem Dorf?
Ja, aber niemand wirklich Nahestehenden. Eine Tante hat sich gekümmert, hat sie zu sich genommen. Alle anderen waren ja weg, verhungert, auf die Krim geflohen oder was weiß ich, wohin. Das Dorf war leer. Die wenigen Männer, die die Hungersnot gelassen hatte, waren in den Krieg gezogen. Ihre Mutter war schon 1932 gestorben in all der Not, ein Jahr darauf ging der Vater weg und ließ sie allein zurück. Damals war sie vierzehn. Man hat nie wieder von ihm gehört. Damals hat sie sich völlig verschlossen.
Und wie war das mit dem Kind?
Ihrem Sohn? Mein Gott, den hat sie abgöttisch geliebt. Er war ihr Ein und Alles. Sie ging ganz in ihrer Rolle als Mutter auf. Hat ihn sogar taufen lassen.
Hieß dieser Sohn zufällig Wasyl?
Ja, natürlich. Genau so heißt er. Wasyl Jurjewitsch.
Aber was hat sie all die Jahre getan? Hat sie denn nicht geheiratet?
Spitz sind sie alle gewesen auf sie, auf die Olha. So jung und hübsch, wie sie war, und ganz allein. Aber keinen hat sie an sich rangelassen. Sie war krankhaft misstrauisch, beinahe ängstlich. Wir dachten erst, sie wollte dem Vater des Kindes treu bleiben. Aber der wollte ja wohl nichts mehr von ihr.
Nur einmal, viel später, hat sie sich verliebt und einen Mann bei sich aufgenommen. Das war ihr Unglück. Der hat sie geschlagen, wenn er betrunken war. Sie haben sich ewig gestritten und angebrüllt, man hat es bis auf die Straße gehört. Mir tat nur der Junge leid. Irgendwann hat sie diesen Kerl rausgeschmissen, aber dann fingen die Probleme erst richtig an. Denn der Junge wurde größer.
So ist das eben, wenn Jungs größer werden.
Er hatte eigentlich keine Lust mehr auf diese Geschichten; das war doch alles Vergangenheit, aber er tat interessiert. Auch blieb ihm nicht mehr viel Zeit. Er wollte so rasch wie möglich weiter, Svetlana konnte längst auf dem Weg sein. Aber die Frauen redeten weiter auf ihn ein.
Mit dreizehn ging er weg, in den Wald. Zu den Banden.
Banden? In den fünfziger Jahren?
Ja, was denken Sie?! Die UPA kämpfte in Galizien noch viele Jahre nach dem Krieg. Sie gaben nicht auf. Und er schloss sich ihnen an. Irgendwann haben sie ihn geschnappt.
Und dann?
Dann wurde alles immer schlimmer. Er saß im Gefängnis. Als er zurückkam, war er schon fast zwanzig. Er trieb sich rum, keiner wusste, was er tat. Und Olha war allein zu Haus und fing an zu trinken. Sie hatte Angst vor diesem Sohn.
Hat er sie geschlagen?
Nicht nur das. Er hat sie bedroht, er wollte wissen, wer sein
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