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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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hinein und standen gedrängt nebeneinander. Als er sah, dass Solowjows Frau vorn einstieg, hatte Konrad im letzten Augenblick die hintere Tür genommen. Jetzt merkte er, dass ihm das Hemd am Rücken klebte und Schweiß über die Stirn lief.
    Er drängte sich zu der Schaffnerin in der gelb-blauen Stoffweste durch, die neben der Mitteltür saß, legte ihr eine Münze in die Hand und erhielt das kleine Billett. Jedes Mal, wenn Leute einstiegen, rief sie ohne vernehmliche Anstrengung mit erstaunlich weit tragender Stimme etwas Ukrainisches durch den Bus, das so viel bedeuten musste wie:
    «Zugestiegene bitte Fahrkarten lösen!»
    Es klang, als lockte sie draußen auf der Steppe die Ziegen, als könnte ihr Ruf jederzeit in eines der vielstimmigen ukrainischen Lieder übergehen.
    Ihr volles Gesicht mit den sinnlich zufriedenen Lippen hätte das einer Melkerin sein können. Sie schien hier in diesem Trolleybus ebenso glücklich zu sein wie auf dem Land, nur wenn sie den Eindruck hatte, dass neue Passagiere sich nicht pflichtschuldig bei ihr meldeten, wurde ihr Blick ungnädig. Doch dabei beließ sie es dann auch. Aus den kurzen Westenärmeln ragten dicke Arme. Die rechte Hand ruhte auf dem Oberschenkel und hielt sonnenblumengelbe Geldscheine sowie ein Päckchen Fahrkarten. Die andere Hand umklammerte die Stange. Makellos hell war die Haut der weißen Fingerchen, ohne Risse oder Rötungen, der kleine Finger leicht nach innen gebogen. Dann bemerkte Konrad, dass die Schaffnerin – ebenso wie er von ihr – gefesselt war von einer Frau, die vor ihr stand. Sie blickte wie verzaubert zu ihr auf. Die Angesehene merkte das gar nicht, ihr Blick ging auf das Getriebe und die Marktbuden an der großen Kreuzung hinaus, an der sie gerade vorbeifuhren. Was mochte sie so faszinieren? Der Lippenstift, die Schminke, die Frisur? Oder das Gesicht, das er nicht sehen konnte, ein hübsches, so ganz anderes als ihr eigenes, das Gesicht einer Städterin?
    Als er wieder zu sich kam und sich nach der strengen, schwarzen Figur von Solowjows Frau umsah, fand Konrad sie nicht mehr. Vielleicht war sie von anderen Fahrgästen verdeckt. Er fand sich eingekeilt und hoffte, dass sie unterwegs nicht ausgestiegen war. Er behielt jetzt die Türen im Auge.
    Der Trolleybus der Linie siebenundzwanzig fuhr Richtung Norden. Irgendwann hörte die Innenstadt auf, rechts kam eine Art Waldgebiet oder vernachlässigter Park. Als sie unter einer Fußgängerüberführung durchfuhren, sah er sie wieder. Sie wirkte asketisch und streng wie ein schwarzer Vogel unter den bunten Leuten. An der nächsten Haltestelle stieg sie aus, er tat das Gleiche. Die Verglasung des Wartehäuschens war herausgebrochen, nur ein paar rostige Stahlrohre zeichneten noch Konturen in die Luft. Konrad wandte sich, da sie nach links ging, sofort nach rechts. Dann blieb er stehen, ging zum Häuschen und tat, als würde er den Fahrplan entziffern, der dort nicht hing. Solowjows Frau bog in eine schmale Asphaltstraße ein, die sich hügelan schlängelte. An ihrem Beginn stand ein verlassener Kontrollverschlag, aus dessen eingeschlagener Fensterscheibe eine rauchgraue Gardine wehte. Die Schranke war längst abgebaut. Sobald sie weit genug entfernt war, nahm Konrad die Verfolgung auf. Neben der Straße verlief ein ausgetretener Pfad im Gebüsch, sodass er ihr unbemerkt folgen konnte.
    Oben auf der Anhöhe verschwand sie in einem älteren Backsteingebäude.
    Er brauchte nicht lange zu warten, schon nach einer Viertelstunde kam sie wieder heraus.
    Konrad ließ sie, versteckt im Gebüsch, vorübergehen. Dann wagte er sich ein paar Schritte auf das Gelände, ihm war nicht geheuer. Das Kontrollhäuschen unten an der Straße, wenn auch verlassen, deutete darauf hin, dass dies kein öffentliches Gelände war. Er sah sich um, endlich entzifferte er an einem der Gebäude das Schild «Aufnahmestation». «Korpus  1 ». Er musste sich in einem Krankenhaus befinden, sie hatte offenbar jemanden besucht.
    Auf dem Rückweg sah er unten an der Hauptstraße das große blaue Schild: « Київське міське науково-виробниче об’єднання охорони психічного здоров’я » – Kiewer Wissenschafts- und Produktionsgenossenschaft für den Schutz der psychischen Gesundheit. Konrad war nicht wenig stolz. Sein Gespür hatte ihn nicht getäuscht, die Hartnäckigkeit hatte sich gelohnt. Jurij Solowjow war gar nicht tot. Er war nur verrückt, und diese Frau versteckte ihren

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