Der wahre Sohn
Lunge. Er hat viel geraucht. Aber er war sehr kräftig, es hat ihm ein Leben lang nicht geschadet. Wir haben nie vorher etwas gemerkt. Er war auch nicht wehleidig, hat bis zuletzt Haltung bewahrt.»
«Das tut mir leid für Sie», sagte Konrad, obwohl er das Gefühl hatte, ihr Mann hätte auch schon vor fünfzig Jahren gestorben sein können.
Sie schniefte.
«Aber wen haben Sie denn dann in der Klinik besucht?»
«Ich habe niemanden besucht. Ich habe etwas hingebracht.»
«Was?»
«Obst.»
«Aber für wen?»
«Finden Sie es nicht selbst merkwürdig, dass Sie mich all diese Dinge fragen? Das geht Sie doch gar nichts an. Sie suchen angeblich ein Auto und fragen mich solche Sachen.»
Diese Feststellung hätte Konrad beinahe aus der Fassung gebracht. Er war erstaunt, sogar ein bisschen beschämt.
«Und?» Sie sah zu ihm hoch. «Hat es Ihnen jetzt die Sprache verschlagen?»
Dann sagte er etwas, über das er sich selbst wunderte. Er musste gar nicht lange nachdenken.
«Nach meiner Erfahrung steht ein Auto selten für sich allein. Es bezieht seine Bedeutung aus einem Gespinst von zahlreichen, mehr oder weniger deutlichen, oft schwer erkennbaren Verbindungen zu seinem Besitzer, aber auch zu dessen ganzer Familie. Ein Auto zu suchen, bedeutet zuallererst, sich aufs engste auf die Menschen in der Umgebung dieses Autos einzulassen.»
Sie lächelte ihn unter gerunzelten Brauen an. «Was ist denn das für Unsinn?» Dann griff sie nach dem Ärmel seines Jacketts. «Sie sollten mehr auf Ihr Äußeres achten. Haben Sie keine Frau, die sich darum kümmert?»
«Nein.»
«Das dachte ich mir. Diese Hose, die muss gebügelt werden. Ihre Landsleute damals traten eleganter auf. Sie trugen gut sitzende Uniformröcke und knallten die Stiefel zusammen. Beim Einmarsch haben viele Kiewer sie noch freundlich begrüßt. Die Mädchen standen am Straßenrand und winkten. Viele deutsche Soldaten hatten kleine Sprachführer dabei und riefen ihnen in ihrem Kauderwelsch was zu: ‹Panjenka, diwtschata! Bolschowik – konjetz! Ukraina!› Und die Mädchen riefen lachend zurück: ‹Ukraine!› – ‹Ja, ja, Ukraina! Chodit guljat spazieren bitte!› Die Mädchen kicherten
.
Nur
diese komischen runden Helme fand ich tollpatschig. Männer wie eine Meute junger Hunde, mühsam durch militärische Disziplin zusammengehalten.»
«Sie tun ja so, als wäre das romantisch gewesen.»
«Nein, nein. Ein paar Tage später war ja schon alles anders. In der Stadt waren die ersten Bomben hochgegangen, Anschläge gegen Gebäude im Zentrum. Wir konnten gar nichts dafür, aber sofort gab es Racheaktionen. Erschießungen. Erhängungen, mitten in der Stadt. An Laternenpfählen. Kleine Kinder standen dabei und guckten zu. Hände hoch, stehen bleiben. Sachen packen. Mitkommen. Trotzdem, es waren meist gut aussehende Männer. Die haben mir schon gefallen. Sie haben recht, ich hatte an und für sich nichts gegen die Deutschen. Auch nicht gegen die, die nicht besonders schön waren, manche hatten grobe, bäuerliche Züge, stumpfe Mienen. Aber einige hatten fast zarte Gesichter. Junge Menschen sehen sowieso fast immer gut aus. Das Hässliche tritt erst später hervor, im Alter. Und ich war ja auch jung damals, ich habe mich da immer noch leicht verliebt, auch wenn ich schon verheiratet war.»
«Hatten Sie keine Angst vor den Deutschen?»
«Nein. Ich habe alle Spuren meines Mannes in der Wohnung beseitigt, so gut es ging. Als Frau wurde man, wenn man ein bisschen Glück hatte und sich nicht herausfordernd aufführte, nicht behelligt.»
«Sind sie denn mal in Ihre Wohnung gekommen?», wollte er wissen.
«Wer?»
«Die Deutschen.»
«Nein. Und sehen Sie … Sie könnten fast noch mein Sohn sein.»
Sie wurde verlegen.
«Nehmen Sie es mir nicht übel», sagte sie. «Wir kennen uns ja gar nicht. Ich bin sicher, Sie haben eine gute Mutter.»
Ja gewiss, wollte Konrad erwidern, etwas Flapsiges hinwerfen, um das Thema sofort zu ersticken, aber seine Zunge wurde auf einen Schlag größer, schwoll hinten zwischen den Weisheitszähnen an, mitsamt den Weichteilen unterhalb der Kiefer, der Mandeln und Lymphdrüsen, und er verschluckte sich an seiner Antwort.
«Entschuldigen Sie», sagte Svetlana.
«Gute Mutter, na ja, das ist relativ», brachte er endlich heraus. «Darüber wollte ich mit Ihnen auch gar nicht reden.»
«Warum laufen Sie mir denn nach, wenn Sie nicht mit mir reden wollen?»
«Ich laufe Ihnen nicht nach. Ich suche das Auto. Sie sind nun mal mein
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