Der wahre Sohn
suche ein Auto.»
«Richtig, das sagten Sie ja. Und deshalb machen Sie extra den weiten Weg?»
«Ist heute alles kein Problem mehr.»
Sie lächelte. Etwas hatte sich verändert.
«Dann kommen Sie doch mit. Ich bin gerade auf dem Weg zu meinem Mann.»
«In die Klinik?», fragte er.
«Nein. Auf den Friedhof.»
Am Ziegelrosa der Friedhofsmauer saß eine jener alten Frauen, wie sie die Fußgängerunterführungen und Metroeingänge in Kiew bevölkern. Zu ihren Füßen ein paar Blumensträußchen. Bittend hob sie eine Hand, ihre Worte verstand Konrad nicht.
«Sie fragt nach Mineralwasser», erklärte Svetlana.
Hinter dem Haupttor blieb sie stehen und atmete ein paarmal tief durch. Dann sah sie zu ihm hoch und schob ihren Arm unter den seinen. «Ich brauche jetzt Unterstützung.»
Eine ganz feine Koketterie, passend zu ihrem Alter.
Es war weit bis zu dem Grab. Sie gingen an der Kirche am asphaltierten Hauptweg vorüber, auf unbefestigten Seitenwegen weiter, drängten sich schließlich zwischen eng stehenden Kreuzen hindurch. Sie musste seinen Arm loslassen, weil sie nur hintereinandergehen konnten, er ließ ihr den Vortritt, es ging durch ein Meer von schief stehenden und rostenden Eisenkreuzen im Gras, über alte, verwucherte, dicht an dicht stehende Gräber, über zugewachsene Pfade.
Und dann eine frische Grabstelle mit aufgeworfener, dunkler Erde, am anderen Ende des Friedhofs. Die oberen Stockwerke eines Neubaus blickten von draußen über die Mauer.
Jurij Solowjow hatte einen bescheidenen schwarzen Stein, nur mit Inschrift. Geboren 1906 , gestorben 1994 . Kein Foto, mit dem viele der anderen Grabmale geschmückt waren.
«Hier liegt mein Mann, sehen Sie?»
Konrad nahm eine, wie er glaubte, pietätvolle Haltung ein und verschränkte die Hände vor dem Bauch.
«Schade, dass es kein Foto gibt. Ich hätte gern gewusst, wie er ausgesehen hat», sagte Konrad.
«Ich lasse gerade eines machen. Mein Mann sah gut aus. Als wir geheiratet haben, haben mich alle beneidet. Jetzt glauben Sie mir wohl, dass er nicht mehr Auto fährt?» Sie sah ihn an.
«Vorausgesetzt, er liegt wirklich dort unten», sagte Konrad. «Man kann einen Menschen auf unterschiedliche Art verstecken.»
Sie wurde blass. Kurz darauf saß sie auf einem von Regen und Wind gedunkelten Brett über zwei Baumstümpfen. Konrad blieb neben ihr stehen, sie atmete heftig.
«Warum sagen Sie das?»
«Entschuldigen Sie», sagte er. «Man weiß ja nicht. Haben Sie seinen Leichnam gesehen?»
«Seinen Körper? Nein. Nein. Ich wollte nicht. Man sagte mir, es sei kein schöner Anblick. Er hat sich sehr gequält.»
«Gequält?»
«Ja, und nicht nur mit dieser Krankheit. Sie kommen hierher, in dieses Land, und haben keinen blassen Schimmer! Mein Mann hat kein leichtes Leben gehabt. Aber das ist eine lange Geschichte.»
«Er hatte doch einen hohen Rang in der Armee, und später in der Partei?»
«Woher wissen Sie das?»
«Ich habe mich kundig gemacht. Er war privilegiert. Wieso hatte er dann kein leichtes Leben?»
«Mein Gott, wie ahnungslos Sie sind. Er hat sein ganzes Leben dem Dienst am Vaterland geopfert. Als die Deutschen in Kiew einmarschierten, waren alle Sowjetfunktionäre in Gefahr. Die meisten von ihnen haben rechtzeitig Wind bekommen und sind aus der Stadt geflohen. Mein Mann kam gerade noch raus. Er hörte die Frontmeldungen und begriff, dass die Kesselschlacht verloren war. Wenige Stunden vor dem Einmarsch im September entkam er. Ich wollte nicht mit. Dadurch ist er ganz knapp den Massenerschießungen entkommen, die hier, ja, hier ganz in der Nähe stattgefunden haben. 1941 . Sie mussten sich alle in der Melnikowstraße sammeln, aus der ganzen Stadt zogen sie hierher.»
«Sie meinen die Juden.»
«Sehen Sie, Sie wissen ja doch ein bisschen was. Ja, Juden waren auch dabei. Aber die meisten waren normale Sowjetbürger und Kriegsgefangene, auch ganz junge Burschen. Die Deutschen haben alle umgebracht, die sie erwischen konnten.»
«Wo war Ihr Mann im Krieg?»
«Im Westen von Leningrad. Politoffizier eines Strafbataillons.»
«Strafbataillon?»
«Das waren politische Kriminelle und gemeine Verbrecher aus den Lagern im fernen Osten. Sie wurden in Einheiten zusammengefasst und an die Front geschickt, eine Chance, in der sie sich fürs Vaterland bewähren konnten. Damit sie nicht bequem in ihren Baracken saßen und sich auf Staatskosten satt fraßen.»
«Woran ist Ihr Mann eigentlich gestorben?»
«Eine bösartige Neubildung, in der
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