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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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einziger Anhaltspunkt. Ohne Sie hätte ich nicht die geringste Spur. Ich arbeite hier mit einem guten Anwalt zusammen, der mit der Polizei und den Behörden in Kontakt steht. Ich bin sicher, er macht gute Arbeit. Aber er geht so akribisch vor, dass sogar ich als Deutscher allmählich die Geduld verliere.»
    Kein Tsss, nur ein leises Gickern von ihr.
    «Mit Ihrer Hilfe werde ich den Fall schnell lösen können. Sagen Sie mir einfach, was Ihren Mann bewogen hat, den Mercedes anzumelden, als er schon im Krankenhaus lag? Wozu braucht ein Krebskranker in Kiew ein Auto, und dann noch so ein Wahnsinnsmodell?»
    Konrad hatte sich neben sie auf die Bank gesetzt. Ihm wurde bewusst, wie lange sie schon hier waren. Dennoch hatte er nicht, wie sonst oft, das Gefühl, die Zeit laufe ihm davon. Seine alte Angst, zu spät zu kommen, es nicht mehr zu schaffen. Im Studium zum Beispiel (seine Magisterarbeit war ihm nie gut genug gewesen). Die Angst, sein heimlicher Ehrgeiz würde nie eine äußerliche Bestätigung finden (er konnte sie seit ein paar Jahren durch das Geld beruhigen, das er als Detektiv verdiente). Und die bange Ahnung, niemand würde die Größe seines Charakters je erkennen. Ganz zu schweigen von den Hoffnungen auf revolutionäre Taten, die die Welt verändern würden. Wenn er an die Studienjahre zurückdachte, wusste er nicht mehr genau, worum es ihnen damals gegangen war. Die Tinte auf diesem Papier war schon verschwommen. Marlene und ihr Körper – das war alles, was von der Weltveränderung geblieben war. Die Leichtigkeit, mit der sie sich hingab. Ihre verschwenderische und zugleich räuberische Lust! Das war schon ein politisches Manifest! Und wenn er von ihr abfiel wie ein nasser Lappen, dann war ihm, als besäße er die ganze Welt und hätte alles verstanden.
    Nein, er hatte keine Eile mehr. Er saß hier neben dieser alten Frau, die er erst seit wenigen Tagen kannte, und war wunschlos glücklich; jedenfalls erinnerte er sich nicht, welche Wünsche er je gehabt haben könnte. Wenn sie ihn bis jetzt nicht davongejagt hatte, würde er ans Ziel kommen. Dass sie ein bisschen verrückt war, nahm er in Kauf. Einen Fremden an das Grab des eigenen Ehemannes mitzunehmen und ihm dort gleich das halbe Leben zu erzählen, das war etwas zu vertrauensselig. Aber auch in Berlin gibt es Frauen, die einem an der Bushaltestelle ihr Herz ausschütten. Nicht wenig zu seinem Wohlgefühl trug die Sonne bei, die ihn wärmte. Am Ende war sie es, die aufbrechen wollte.
    «Kommen Sie, es wird kühl», sagte Svetlana und stand auf. «Sie sind nicht warm genug angezogen.» Wieder bot sie ihm ihren Arm. «Ich glaube, ich muss mich ein bisschen um Sie kümmern.»
     
    Es hätte ihm zu denken geben müssen, dass sie sich so umstandslos gefunden hatten. Dabei sprach alles gegen eine rasche Bekanntschaft, der große Altersunterschied, die zwei Sprachen, die Welten trennen, überhaupt die Fremdheit des einen in der Stadt der anderen.
    Aber manchmal genügt eine Kleinigkeit, um einander kennenzulernen. Wie damals bei der Frau im Supermarkt in Mahlsdorf, die er nach den Heringen gefragt hatte. Konrad war unausgeschlafen nach einer alkoholischen Entgleisung am Abend zuvor, mit zwei Mädchen in Günters Wohnung in Prenzlauer Berg, und er hatte einen Heißhunger auf marinierte Heringe. Sein Blick glitt über die reifbedeckten Putenschenkel in den Kühltruhen. Nirgends ein Fisch, überall nur Keulen mit Gänsehaut. Er wurde gereizt, fragte schließlich, und die Verkäuferin in der weißen Bluse neben ihm lachte. Sie war nämlich gar keine.
    Aber ihr Lachen! Wie es strahlte in der tristen Plattenbausiedlung, wo alte FDJ ler in der Dämmerung Hakenkreuze an die Mauern sprühten. Sie sah ihn von der Seite an und lachte, einfach so. Was ist schon lustig an Heringen?
     
    «Wenn Sie mögen, kommen Sie noch mit hoch», sagte Svetlana. «Ich koche uns einen Kaffee.»
    Das Treppenhaus war diesmal weniger aufregend als beim ersten Mal. Ganz normale Stiegen und harte hölzerne Handläufe, gewetzt und geschliffen von unzähligen Händen, manchmal verschwitzt und manchmal vielleicht kalt vor Angst. Seine eigene Aufregung hatte das Treppenhaus in ein so seltsames Licht getaucht. Heute war alles gewöhnlich. Vielleicht, weil Solowjows Frau vor ihm hinaufstieg. Oben schloss sie die Wohnungstür auf, an der er vor wenigen Tagen geklingelt hatte, und trat vor ihm in den dunklen Flur. Ihm wurde klar, dass er im Begriff war, mit der Witwe des mutmaßlichen Täters

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