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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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energischer Hand aufschließen würde. Er war ja dazu bereit, und es war gar nicht notwendig, dass dieser Jemand ihn gut kannte. Mit Marlene zum Beispiel war er schon so lange zusammen, aber sie war blind für jede Veränderung an ihm. Ihr hatte sich sein Bild vor zehn Jahren eingebrannt, und sie sah immer nur dieses alte Bild, glaubte alles über ihn zu wissen.
    Aber hier, in Kiew, war auch die Wirklichkeit eine andere.
    «In Wirklichkeit … Ich übersetze Obduktionsbefunde aus dem Russischen. Mich interessiert das Medizinische, solange es auf der sprachlichen Ebene bleibt. Fünf Tote, aus dem Auto geschleudert, weil der Fahrer eingeschlafen und frontal aufgeprallt ist, und bei jedem Einzelnen die vollständige Beschreibung seiner Verletzungen. Von Kopf bis Fuß. Vom Milzriss über den Halswirbelbruch bis hin zu den Zehenknochen. Das bringt gutes Honorar. Ob mich das belastet? Nein, gar nicht. Was mich abstößt, sind die wirklichen Körper kranker Menschen, und mehr noch ihre klammernden, hilfesuchenden Seelen. Als Jugendlicher wollte ich immer ein gut aussehender, sonnengebräunter Arzt in einer lichtdurchfluteten amerikanischen Klinik sein, die Brandung des Pazifischen Ozeans direkt vor der Veranda. Von Schwestern und Patientinnen angehimmelt. Mit heldenhaften Krankengeschichten, von Fall zu Fall eilend, helfend und souverän, nie festgehalten von eitrigen Blicken. Als Kind habe ich die Ärzteromane im Reader’s Digest verschlungen, die meine Eltern, also mein Vater, abonniert hatte. Es lag immer auf dem Couchtisch, jeden Monat das neue Heft, obwohl er selbst nie auf der Couch gesessen und gelesen hat. Vielleicht hat er sie als Dekoration dort hingelegt, oder auch absichtlich, um mich für die Medizin zu interessieren. Ausgeschlossen ist das nicht.»
    «Reader’s Digest?»
    «Ja, diese amerikanische Sammelzeitschrift. Und die Monatsschrift für Deutsches Recht lag auch da.»
    «Dann sind Sie in Westdeutschland aufgewachsen?»
    Er antwortete nicht sofort, weil die Erinnerung ihm die Worte verschlug. Was hatte sein Vater noch alles versucht, um sein Leben zu lenken? Ohne dass er es merkte? Warum hatte er ihm nie etwas von dieser Geschichte seiner Mutter und ihrem Bruder gesagt? Wenn es klingelte, guckte Vater manchmal durch den Spion und legte den Finger an die Lippen. Konrad dachte, es sei die Mutter, aber dann hörte er eine Männerstimme vor der Tür, erst bittend, dann beschwörend, dann ungemütlich. Diese Familie war ein Labyrinth. Die Mutter war für immer verschwunden, Onkel Wolfgang war ein peinlicher Sadist und wurde versteckt. Seit drei Tagen wusste Konrad jetzt, was der Onkel und Ilse getan hatten. Bei dem Gedanken daran wurde ihm beinahe übel. Vielleicht hatte sein Vater sich deshalb scheiden lassen? Jetzt konnte er ihn nicht mehr fragen.
    Svetlana ließ ihn ausschweigen.
    «Ich wandere nachts viel durch die Stadt, weil ich nicht schlafen kann, und treffe Freunde, ebensolche Nachtmenschen wie ich. Ich habe Angst vor Wildschweinen, ich bilde mir da was ein.»
    So hätte er lange fortfahren können. Aber hier, in dieser Küche in Kiew, zwischen den Jahrzehnten, die sich im Schrank und unter dem am Rand hochstehenden Linoleumfußboden gesammelt hatten, fiel ihm angesichts seiner Schilderung selbst auf, wie wenig er in sich zusammenhing. Was für ein windiger, schillernder Typ er war. Lauter Etiketten, bunte Wimpel, Ausflüchte, um andere abzulenken. Aber von was, und von wem? Am liebsten hätte er diese Gedanken Svetlana hingeworfen. Sollte sie es zusammensetzen und herausfinden, wer er war.
    «Nachtwächter war ich auch.» Nun wurde Konrad geradezu fröhlich. In jenem schmerzlichen Gefühl der Zurücksetzung, als er nach mehrjährigem Studium Nacht für Nacht durch leere Bürogebäude und Werkhallen ziehen musste, spürte er sich wieder deutlicher. Er tastete sich durch sein Leben wie durch eine dunkle Halle und war froh, eine hellere Stelle gefunden zu haben, an der noch etwas zu erkennen war.
    Vor Solowjows Frau brauchte er sich nicht zu schämen, vor ihr konnte er sich frei machen. Er fühlte sich gar nicht verantwortlich für das, was er von sich erzählte. Sie erwartete ja nichts als Ehrlichkeit, so schien es ihm jedenfalls, und belohnte ihn, indem sie ihm in aller Ruhe zuhörte. Es war, als wäre er nach einem turbulenten Leben in der Welt in seine kleine Stadt zur alten Großmutter zurückgekommen und könnte jetzt alles erzählen, könnte erst noch ordentlich auf die Pauke hauen und am Ende

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