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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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kleinlaut mit der Wahrheit herausrücken.
    «Was haben Sie dort getan, als Nachtwächter?»
    «Was man da eben so tut. Man geht durch lange Büroflure, Stockwerk für Stockwerk, dann durchs Treppenhaus, ein hohes Gebäude für sich, sieht das Lichtermeer der Fabrikanlage und des angrenzenden Gewerbegebietes, das rote Blinken an den Türmen des Heizkraftwerks. Dann betritt man wieder einen scheinheilig gedämpften Korridor, in dem tagsüber Menschen arbeiten, kommt zurück ins Treppenhaus, das man aus irgendwelchen Angstträumen der Kindheit zu kennen glaubt, geht oben durch eine schwer zufallende Stahltür in die Forschungsabteilung – Zeichentische, Wandkalender, Fotos der Lieben, man meint eingewickelte Butterbrote zu riechen, Abteilungsfeiern mit korkenknallenden Sektflaschen liegen in der Luft, bedrückende Abteilungsfeiern, auf denen die ganze beengte Lebenslust der Angestellten hervorspritzt, aber nicht so wie bei Klaus Kinski. Kennen Sie den Film, in dem er eine Champagnerflasche öffnet, sich eine ganze Weile verhalten von seinem Gast abwendet, um dann, lüstern lächelnd, mit seiner Antwort auch den Schaum vorschießen zu lassen?»
    Sie schüttelte den Kopf.
    «Viel fürchterlicher und verkrampfter, und mir schien dann immer, ich ginge durch das Innere einer großen Familie, das zeitweilig verlassen war. Die Räume sind weitläufig, aber am Ende eng wie eine Autokarosserie, ebenso unbeweglich und starr. Durch einen Irrtum und aus Geldnot war ich in diese Familie hineingestolpert. Wenn die ersten Angestellten kamen, war ich wieder weg. Niemand kannte mein Gesicht, mit keinem von ihnen saß ich in der Kantine. Ich beging die Kehrseite ihres Lebens – ‹Begehung›, verstehen Sie das Wort? Es steht in der Dienstanleitung, einem hellblauen Heftchen. Das bezeichnet den Kontrollgang, den der Wachmann zu absolvieren hat. Verstehen Sie?»
    Er wusste nicht, ob er das im Russischen richtig ausgedrückt hatte. Sein erster Lapsus hatte ihn ein bisschen unsicher gemacht in dieser Sprache, die er eigentlich gut beherrschte. Das Wort war ja sogar im Deutschen ungewöhnlich. Er musste sich auf ihr Nicken verlassen.
    «Um fünf Uhr morgens hallen die Schritte der Frühschicht über den Steinboden der Eingangshalle. Mit einem Ruck springen die Paternoster an, in ihrer Nähe riecht es nach alten Schulmöbeln und Bohnerwachs. Die hohen Bogenfenster, durch die das Tageslicht ins Foyer fällt, verleihen der Halle die Anmutung eines Kirchenschiffs. Wenn der Pförtner kam, war ich abgelöst.»
    Er war nicht sicher, was sie davon halten würde. Er wusste ja eigentlich so gut wie nichts von ihr. In welchen Kategorien sie dachte, welche Werte sie hatte. Wenn sie seit der Revolution im Kommunismus gelebt, wenn sie sogar die frühe Zeit der Begeisterung miterlebt hatte, hatte sie das bestimmt geprägt. Dass sie beide sich in einer Sprache verständigen konnten, hieß noch nicht viel. Im Grunde war sie ihm fremd, sie hatte ihr Leben in einer anderen Welt zugebracht. Dass sie sich begegnet waren, war ausgemachter Zufall. Ihre Tage auf diesem Planeten waren gezählt. Sie schrammte gerade so an seinem Leben vorbei, das übrigens auch nicht ewig dauern würde. Dachte er, und sein Zwerchfell zuckte leicht. Ihre Begegnung grenzte an ein Wunder und war gleichzeitig so unverbindlich wie Mazepas Rasierwasser. Er konnte jederzeit Schluss machen. Aufstehen, Tür zuschlagen – und weg war er.
    «Bei dieser Arbeit hat man viel Zeit», fuhr er geduldig fort. «Alle zwei Stunden zieht man los und sieht nach, ob alles in Ordnung ist. Dazwischen kann man lesen, zum Beispiel. Rechnet man den Stundenlohn auf die reine Arbeitszeit um, kommt man ganz gut dabei weg.»
    Sie nickte wortlos und sah ihm ins Gesicht, während er sprach.
    «Lesen tue ich auch gerne.»
    Und als sie weiterredete und erzählte, was sie gerne las, langweilige Klassiker, tauchte eine andere Erinnerung in ihm auf: an jene Arbeit, jenen Sommer, als er sein Studium noch nicht abgebrochen hatte, aber kein Geld mehr vom Vater bekam. Das Gebäude, das er damals bewachen musste, machte ihm Angst wie ein fauliger Sumpf, als hätte sich ein ätzendes organisches Wesen im tiefsten Raum festgesetzt, als Ablagerung von allem, was im Hellen nicht gedeihen konnte. Das lag nicht nur an den langen dunklen Fluren, in denen das Neonlicht lustlos und gespenstisch aufflackerte, sobald er sie betrat. Er sagte Svetlana kein Wort davon, dass er sich damals, statt ins Freie zu fliehen, immer mehr in das

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