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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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mich nur dumm angestellt.»
    «Aber aufgeben wollten Sie nie, oder?»
    «Nein. Natürlich nicht. Ich dachte ständig an sie. Sie muss das gemerkt haben. Gedanken haben eine Fernwirkung. Kennen Sie die Untersuchungen von Leonid Wassiliew? Ich sandte Signale an sie aus. Geheime Zeichen, die nur wir beide verstehen. Und solche Dinge habe ich in meine Programme eingebaut.»
    «Welche Dinge?»
    «Ich saß an den Lochkarten, später bekamen wir Magnetbänder. Ich las den Ausdruck des Programms mechanisch durch, prüfte es auf syntaktische Fehler, aber in Wirklichkeit dachte ich die ganze Zeit an Olha. Einmal schrieb ich an die Stelle, wo ein normaler Maschinenbefehl stehen sollte, ihren Namen. Aus Zerstreutheit. Später habe ich das öfter getan, mit Absicht, so wie einen Befehl oder eine Variable. Ich wollte, dass ihr Name im großen Bauch des Rechners steht. Damit nichts passierte, habe ich ihn als Kommentar eingeklammert. Wie mit …»
    Kichert.
    «… mit einem Pariser. Wissen Sie, was das ist? Damit kann auch nichts schiefgehen. So ein feiges kleines Menschlein war ich. Bis heute bin ich ja kein richtiger Mann. Ich habe nichts zu melden. Und dann flog plötzlich der Reaktor in die Luft. Du lieber Gott, dachte ich, jetzt ist es passiert. Olha hat gewirkt. Ich habe irgendwo die Klammern vergessen. Das ist die Strafe. Für euch, weil ihr mir Olha weggenommen habt. Ich habe das Haus einen Millimeter angehoben, und jetzt ist alles zusammengekracht. Mutter hielt die Fenster geschlossen und schrie mich an, wenn ich auf den Balkon wollte. Ich wusste, etwas Schlimmes war passiert, und ich war begeistert. Heute weiß ich, dass das gar nicht meine Schuld war. Ich bin ja nicht verrückt.»
    «Nein, verrückt sind Sie nicht», versicherte Guzman. «Sie müssen nur ein bisschen aufräumen in Ihrem Kopf.»
    «Olha ist ja auch nicht gleich Olha.»
    «Was meinen Sie?»
    «Sie haben neulich zu Dr. Medwedjewa gesagt, dass Olha zu einem Symbol geworden ist, dessen Bedeutung längst über das konkrete Mädchen von damals hinausgewachsen ist.»
    «
Das haben Sie sich gemerkt?»
    «Ich bin ja nicht taub, Herr Professor. Aber gesund bin ich wohl auch nicht. Ich bleibe noch eine Weile hier.»
    Das war im Oktober 1989 . Kurz darauf wurde Arkadij entlassen, damit endeten die Protokolle. Die nächste Einweisung vermerkte die Krankenakte im Herbst 1993 , da war Professor Guzman schon im Ruhestand. Niemand machte sich mehr die Mühe, die Gespräche aufzuzeichnen.
    Konrad legte den Hefter weg und streckte sich. Nach all dem hatte er heute kein Bedürfnis mehr, Arkadij noch leibhaftig zu hören. Prokoptschuk ließ ihn raus. Im Park sah er das Mädchen, er erkannte es schon von weitem, am Gang. Sie setzte ihre Schritte langsam und merkwürdig, sie wichen nur um Haaresbreite vom normalen Gehen ab. Als sie ihn sah, wollte sie erst kehrtmachen, bezwang sich aber und kam weiter auf ihn zu. Sie hatte wirklich ein hübsches Gesicht. Es war nur ein bisschen zu weiß und eine Spur zu hart. Als sie einander passierten, schaute sie eine Sekunde zu ihm herüber. Er lächelte.
    Doch mit einem Mal stürzte in ihrem Gesicht alles zusammen, und er hatte den Eindruck, es sei gar nicht mehr sie selbst, sondern nur noch der nackte Schrecken über das eigene Ende. Wie sehr ihn das schmerzte, dieser jähe Zerfall von Schönheit in Chaos! Kein fröhliches, schöpferisches Chaos, sondern die Sekunden vor dem Nichts. Er empfand großes Mitleid, dann auch Schuld, schließlich hatte er sie angesehen. Und er verspürte den Wunsch, ihr zu helfen, die Teile wieder zusammenzufügen. Er wollte sie umarmen, sie wieder schön machen.
    Zum Glück hatte die alte Pflegerin diesmal nichts gesehen. Sie stand wieder auf den Stufen zur Männerpsychiatrie und rauchte. Konrad wusste nicht, was ihre hohe weiße Haube bedeutete, aber er konnte auch die Funktion der anderen Mitarbeiter nicht anhand ihrer Kleidung bestimmen.
    «Sie sind kein Patient, nicht?», rief die Frau.
    «Nein. Ich bin wegen einer anderen Sache hier.»
    «Und zwar?»
    «Ich arbeite an einem Fall. Sagt Ihnen der Name Arkadij Solowjow etwas?»
    «Natürlich. Arkadij Jurjewitsch. Auf der geschlossenen Männerstation. Den kennt hier jeder. Wieso ‹Fall›? Der ist schon kurz nach dem Krieg mal hier gewesen. Ich kann mich genau erinnern, weil er einer meiner ersten Patienten war. Ich sollte damals als Krankenschwester an die Front, aber dazu ist es nicht mehr gekommen. Ende 1946 , da war ich ein knappes Jahr hier, wurde

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