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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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der Pflanzen flogen über die Erde und das Gras, und ich war mittendrin in dieser Landschaft. Sie ging in alle Himmelsrichtungen, bis zum Horizont, und ich war hier aufgehoben.»
    «Was meinen Sie damit?»
    «Es gab keine Überraschungen. Alles war schon von weitem zu sehen.»
    «Aha.»
    «Olha hatte kräftige Arme. Sie griff sich einen schweren Rock von Svetlana und warf ihn mit Schwung auf das Brett, ich spürte den Lufthauch mit geschlossenen Augen, und das war, als koste mich der Sommerwind. Die Luft roch so würzig, nach Kräutern, Lavendel, diese Pflanze mit den kleinen, blauen Blüten, Zitronenkraut. Nach getrocknetem Rindermist. Auch Kuhfladen können duften, Herr Professor, wenn sie von der Sonne warm werden. Es roch auch nach der Stärke, die Olha verwendete. Manchmal war mir auch, als läge ich in einer Wiege aus Bast oder Weide und schaukelte sanft hin und her. Ich schloss die Augen und träumte.»
    «Was empfinden Sie jetzt, wenn Sie das erzählen?»
    Konrad ließ das Blatt sinken. Der in Deutschland übliche Psychojargon hatte es bis hierher noch nicht geschafft. Was macht das mit dir, wie gehst du damit um? Der kleine Arkadij, Jahre zurückversetzt vom Barbamil, antwortete zutraulich:
    «Wenn ich das erzähle, kommt mir das Gefühl von damals wieder in den Sinn, und ich will nicht verstehen, dass ich jemals so glücklich war.»
    Konrad hob den Blick von der Akte und nahm das Foto in die Hand. Lange betrachtete er das Gesicht des Kindermädchens, das direkt in die Kamera sah.
    Ob Arkadij denn später, nach dem Krieg, nicht versucht habe, zu ihr zu kommen? Die Frage war vom Sommer 1989 . Konrad verlor die Übersicht über die chronologische Abfolge der Protokolle, immer wieder kam es ihm auch so vor, als ob Blätter fehlten.
    «Doch. Ich wollte immer zu ihr. Mein Leben lang. Ich habe sie nie aufgegeben, ich konnte sie nur einfach nicht finden.»
    Beginnt zu weinen.
    «Das Schlimmste ist, wenn ich mir vorstelle, sie wartet vielleicht die ganze Zeit auf mich, Herr Professor. Glauben Sie nicht? Ich wusste, dass sie vom Land gekommen war, aus einem Dorf nördlich der Stadt. Den Namen hab ich vergessen, ich könnte mich schlagen dafür.»
    «Das wundert mich», sagte Guzman, «Sie haben doch sonst so ein gutes Gedächtnis.»
    «Ich weiß auch nicht. Ich wollte den Ort ja wiederfinden.»
    «Warum haben Sie sich nicht einfach eine Landkarte besorgt und sie abgesucht? Dabei fällt einem doch meistens der Name ein.»
    «Herr Professor, meinen Sie, das hätte ich nicht getan? Ich habe ganze Listen von Ortsnamen angelegt. Alphabetisch wie der Lage nach, jede Straße bin ich abgefahren. Aber die Karten sind nicht zuverlässig.»
    «Sie sind überhaupt sehr misstrauisch, was die Fabrikate anderer Menschen angeht, oder?»
    «Weil ich weiß, wie leicht man Fehler machen kann. Und wie verstockt man ist, wenn man sie nicht zugeben will.»
    «Woran denken Sie?»
    «Also, um Ihnen ein Beispiel zu geben: Einmal, das ist Jahre her, wurde an unserem Haus gebaut. Es war vollständig eingerüstet, die Maurer kletterten vor den Fenstern herum. Grobe Männer, Bauarbeiter. Sie beugten sich manchmal vom Gerüst und guckten zu uns in die Küche, lachten oder machten zotige Witze, oder sie bändelten unter einem Vorwand mit Svetlana an, baten um ein Glas Wasser, ihr Zigarettenrauch zog in die Wohnung. Es war Sommer, August. Die Stadt leer. Und wissen Sie, was ich getan habe? Ich habe das ganze Haus an einer Seite wenige Millimeter angehoben, mit Hilfe eines Flaschenzuges.»
    «Warum haben Sie das getan?»
    «Aus Übermut. Vielleicht wollte ich ihnen irgendetwas beweisen. Die Handwerker mauerten und spachtelten eifrig, verputzten das Haus, das nicht so stand, wie es eigentlich stehen sollte. Nach Abschluss der Bauarbeiten sollte der Flaschenzug herabgelassen werden, und es würden sich Risse über die ganze Fassade ziehen, schlimmstenfalls würde das ganze Gebäude zusammenkrachen. Unser Haus. Die ganze Welt. Und Schuld hatte ich. Ich hätte es sofort allen sagen müssen, damit sie ihre unsinnige Arbeit einstellen. Aber ich schämte mich für meine unsinnige Tat, die niemand verstehen würde. Und war es jetzt nicht ohnehin zu spät? Die Arbeiten waren ja viel zu weit fortgeschritten.»
    «Und? Wie ging es aus? Ihr Haus steht ja heute noch.»
    «Ja. Zum Glück.» Schweigen.
    «Wie erklären Sie sich, dass Sie Olha bis jetzt nicht gefunden haben?»
    «Ich wurde immer verhaftet.»
    «Haben Sie denn etwas Verbotenes getan?»
    «Ich hab

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