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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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achten die Leute nicht auf die Hrywnja. Schon der Transport des Leichnams zum Friedhof bringt Geld, obwohl das offiziell eine staatliche Aufgabe ist und eigentlich nichts kosten dürfte. Der Grabstein, die Kränze. Rituelle Dienstleistungen. Die Ukrainer sind zu Lebzeiten widerlich zueinander, aber zu ihren Toten haben sie ein sentimentales Verhältnis. Vielleicht ist es die Nähe zum Tod, die die Kriminellen an der Branche anzieht.»
    «Klingt gruselig.»
    «Ist es, und wenn Sie Holota heute begegnen würden, dann würden Sie ihn für einen Geschäftsmann halten. Er trägt feine italienische Anzüge. In einer Bank würde er nicht auffallen. Autodiebstahl, ach was, dem weisen Sie auch keine krummen Geschäfte mehr nach, falls Sie ihm nicht genau auf die Finger sehen – und das tut niemand. Wenn Sie wollen, ist er so etwas wie ein verbürgerlichter Oligarch. Keiner der großen Fische aus Donetzk.»
    «Dann wäre die Sache ja geklärt.»
    Mazepa lächelte. «Was meinen Sie?»
    «Ein Zugriff, und wir haben das Auto.»
    «Ich sagte, er hat Beziehungen», antwortete Mazepa trocken.
    «Das heißt?»
    «Wenn er davon Wind bekommt, ist der Wagen weg.»
    «Und die Polizei?»
    «Wenn die Polizei ihre Arbeit tun würde, wäre ich arbeitslos. Autodiebstahl ist kein Staatsdelikt.»
    «Hat dieser Holota eine Meldeadresse?»
    «Natürlich ist er irgendwo gemeldet. Aber finden werden Sie ihn dort nicht. Man vermutet ihn im Süden, in der Nähe seines Geburtsortes.»
    «Können Sie mir die offizielle Adresse geben?»
    «Damit Sie ihm einen persönlichen Besuch abstatten?», grinste Mazepa. «Das lassen Sie besser. Vergessen Sie nicht, es ist nicht unsere Aufgabe, Holota hinter Gitter zu bringen. Wir sollen das Auto finden. Ich bitte Sie ohnehin, diesen Namen niemandem gegenüber zu erwähnen. Wenn er erfährt, dass ihm jemand auf der Spur ist, könnte es gefährlich werden. Für mich.»
    «Versprochen», sagte Konrad.
    «Wie ist das Befinden Ihrer werten Frau Witwe?», fragte er mit einem maliziösen Lächeln.
    «Danke der Nachfrage. Den Umständen entsprechend.»
    «Passen Sie mit den Mädchen hier auf», rief Mazepa ihm nach. «Viele von ihnen sind infiziert.»
     
    Prokoptschuk musste seine Arbeit unterbrechen, um Konrads Frage zu beantworten. Er blätterte ungehalten in dem Aktenbündel.
    «Ja, stimmt. Arkadij war schon als Jugendlicher einmal in Behandlung. Damals war er sechzehn.»
    «In welchem Jahr ist das gewesen?»
    «Warten Sie. Geboren ist er 1930 , also muss es 46 gewesen sein.»
    «Da war der Krieg zu Ende.»
    «Und sein Vater kam 1946 zurück. Politoffizier ist er gewesen.»
    «Interessant. Steht dort noch was über seine Eltern?»
    «Nein.»
    «Und was ist damals passiert?»
    «Er wurde wegen gesteigerter Aggressivität eingeliefert.»
    «Wer hat das veranlasst?»
    Prokoptschuk las nach. «Die Eltern selbst. Der Vater hat ihn gebracht.»
    «Und warum?»
    «Er hat seine Mutter angegriffen.»
    «Also kann er doch aggressiv werden.»
    «Bei uns ist er in dieser Hinsicht nie auffällig geworden. Bedenken Sie, das war vor neunundvierzig Jahren, ist ein halbes Jahrhundert her.»
    «So lange werden die Akten bei Ihnen aufbewahrt?»
    «Nein, das ist ein Zufall. Ich fand im Keller nur diese eine Akte aus dem Jahr, sie war in einem jüngeren Ordner zu Arkadij abgelegt.»
    «Hat man eigentlich nach diesem Kindermädchen gesucht?»
    «Nein, dafür finde ich keine Hinweise. Auch keine Adresse. In den Akten steht auch keine einzige Aussage von ihr.»
    Prokoptschuk ließ zur Veranschaulichung einige Seiten an seinem Daumen vorbeischwirren.
    «Beinahe so, als hätte sie nie existiert, oder?», fragte Konrad. Der Psychiater nickte.
    «Übrigens, was ich Sie fragen wollte. Dort draußen läuft ein Mädchen herum, kurzes schwarzes Haar, ziemlich hübsch, ganz jung. Sie scheint Angst vor Fremden zu haben, vor mir erschrickt sie jedenfalls immer. Wissen Sie Näheres über sie?»
    «Weiten Sie Ihre Nachforschungen jetzt auch auf die Frauenstation aus? Sie ist keine Patientin von mir. Ich habe nur gehört, dass sie versucht hat, ihren Vater umzubringen. Seien Sie vorsichtig.»
    «Umzubringen?»
    «Ja, sie ist von ihm missbraucht worden. Vergewaltigt. Und das mehrfach.»
    Konrad nickte entsetzt.
    «Aber würden Sie sagen, man darf gar nicht mit ihr reden?»
    «Besser, Sie lassen es. Möglicherweise entwickelt sie einen Hass auf Sie, schon weil Sie ein Mann sind und nett zu ihr sein wollen.»

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    Sechs
    Wasyl Holota.

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