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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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Arkadij eingeliefert.»
    «Wie alt war er da?»
    «Noch ein Junge, fünfzehn oder sechzehn. Er war ganz ruhig, hat nicht um sich geschlagen wie andere. Das war das eigentlich Traurige, dass er sich so in sein Schicksal fügte. Vielleicht hatte man ihm auch schon etwas gespritzt.»
    «Unglaublich. Nach fünfzig Jahren können Sie sich an solche Einzelheiten erinnern?»
    «Weil er der Erste war. An den Ersten erinnert man sich immer.» Sie zwinkerte ihm zu. «Ich habe diesen staksigen, tastenden Gang später noch oft gesehen, aber Arkadij werde ich nie vergessen. Ich war noch unerfahren, und er tat mir so leid.» Sie nahm einen Zug. «Er blieb nicht lange. Man stellte ihn mit Medikamenten ruhig und schickte ihn bald wieder nach Hause. Es gab ja viel schwerere Fälle, so kurz nach dem Krieg. So viele Menschen waren hier ganz in der Nähe gestorben. Aber das wissen Sie bestimmt.»
    «Haben Sie denn miterlebt, was hier im Krieg passiert ist?»
    «Nein, da war ich woanders. In Charkiw. Ich habe sein Gesicht gesehen, als sein Vater ihn abholte, es war weiß und aufgedunsen. Ein hübscher Junge mit blondem Struwwelhaar und einem klugen Gesicht. Doch jetzt starrte er nur ängstlich, und er bewegte sich, als müsste er das Gehen erst wieder erlernen. Sein Vater war sehr geduldig, stützte ihn und öffnete ihm die hintere Tür seines Wolga. Am Steuer saß ein Chauffeur, da wurde mir klar, dass der Vater jemand ganz Wichtiges ist.»
    «Wie sah der denn aus?»
    «Groß gewachsen, hager, dunkles Haar. Gut gekleidet. Er machte einen fast vornehmen Eindruck.»
    «Nicht zu fassen, dass Sie sich daran noch erinnern.»
    «Ja, da staunen Sie. Ich habe hier kurz nach dem Krieg angefangen.»
    «Müssten Sie dann nicht längst in Rente sein?»
    «Formal gesehen schon. Aber formal gesehen existiere ich gar nicht mehr. Der Direktor lässt mich weiterarbeiten. Es fehlt an erfahrenen Leuten, die für das lächerliche Gehalt hier schuften.»
    «Wie war das denn hier kurz nach dem Krieg?»
    «Da dampfte noch alles. Blut und Rauch, ein seltsamer Nebel. Ein ganz merkwürdiger Geruch hing in der Luft. Ich kam im Herbst nach Kiew. Ich teilte mir damals mit anderen Pflegerinnen ein Zimmer. Frühmorgens fiel die Sonne ins Fenster. Wenn man nach draußen kam, glitzerte der Tau, und die Vögel zwitscherten. Was für eine Idylle, dachte ich im ersten Moment. Aber dann kam, wie eine Verletzung, der Gedanke an das, was hier geschehen war. Viele Gebäude hier waren halb zerstört. Maurerkolonnen bauten sie wieder auf. Die Kuppeln der alten Kathedrale zeichneten sich unscharf im Nebel ab. Da vorn, sehen Sie, steht noch eine alte Glocke in diesem Eisenkäfig. Ganz in der Nähe waren Tausende von Juden umgebracht worden, in einer Schlucht, die sie später zugeschüttet haben. 1941 haben die Deutschen als Erstes über dreihundert jüdische Patienten erschossen. Im Frühjahr 1942 noch mehr. Einige Ärzte versuchten, die Patienten zu entlassen, um ihr Leben zu retten.
    Wer weiß, welche Auswirkungen das alles bis heute hat, auf die Menschen. Kiew macht so einen modernen Eindruck, finden Sie nicht? Überall neue Hochhäuser. Die Leute sind zu Geld gekommen, ich weiß zwar nicht, wie, ich jedenfalls kann von meinem Gehalt nicht leben. Alle kaufen in den Supermärkten Westwaren, es geht ihnen gut. Auf mich wirkt das immer wie ein Vorhang. Vielleicht weil ich jeden Tag mit ganz anderen Menschen zu tun habe. Und ich kann nicht vergessen, was damals passiert ist. Ich sehe immer noch die Komsomolzin an der alten Kastanie hängen, einem der wenigen Bäume, die im Krieg unversehrt geblieben waren. Die Frau hatte bei der Entkulakisierung mitgemacht und kam mit ihren Schuldgefühlen nicht zurecht, deshalb war sie in Behandlung. Albträume habe ich heute nicht mehr, aber es ist noch in meinem Kopf. Wenn Sie sich den Ort ansehen wollen, gehen Sie dort durch den Wald, es sind nur fünf Minuten. Und Sie? Ich habe gehört, Sie kommen aus Deutschland? Wie fühlen Sie sich hier? Nach alledem?»
    «Ich hab eine ziemlich dicke Haut. Nur die Kranken, die sind manchmal merkwürdig. Sagen Sie, wie war das denn, als Arkadij später erneut eingeliefert wurde?»
    «Da war ich nicht dabei. Ich habe ihn noch nicht mal wiedererkannt, erst später, als ich seinen Namen auf dem Krankenblatt las.»
    «Und er hat Sie auch nicht wiedererkannt?»
    «Nein, nein. Bin ja auch viel älter geworden.»
    Sie entblößte lachend ihre Zähne.
    «Und, verstehen Sie sich gut mit ihm?»
    «Klar. Arkadij mag

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