Der wahre Sohn
ist nach allem, was wir wissen, verhungert. Ihre eigenen Erinnerungen deuten darauf hin. Sie selbst haben überlebt und kamen in ein Kinderheim. Von dort haben die Solowjows Sie als Ihren Sohn angenommen.»
Arkadij nickt wortlos.
18 . Mai 1988 .
«Erinnern Sie sich an die Zeit, als Sie zu den Solowjows kamen?»
«Ich habe die neuen Eltern gehasst, ich wollte dort nicht bleiben. Ich wollte zurück ins Kinderheim, zu Olena.»
«Was war so schlimm?»
«Die erste Zeit. Der erste Winter. Alles war so eng in der Wohnung. Viel zu warm. Im Kinderheim hatten sie nicht genug Holz zum Heizen, deshalb war es kühl, und da waren viele andere Kinder. Dort habe ich mich wohl gefühlt. Nur die böse Wärterin, die im Flur saß …»
«Warum böse?»
«Die Hexe saß dort und passte auf. Nachts hat sie mich festgehalten, wenn ich zu Olena wollte.»
«Und die Zeit davor?»
«Daran kann ich mich nicht erinnern.»
«Gar nicht?»
«Ich glaube immer, da war ein Fluss, ein fauliger Geruch im Sommer, wenn der Wasserspiegel sank. Kaulquappen, die in dem seichten Wasser dahinschlängelten. Sie wurden immer langsamer, dann grau und glanzlos in der Sonne. Die Reiher und Möwen warteten schon am Ufer.»
«Möwen? Dann muss es ein großes Gewässer gewesen sein.»
«Ja, ihre spitzen Schreie. Aber ich bin nicht sicher, ob das nicht aus einem Film ist. In der Stadtwohnung war es nicht schön. Dunkel und still, ohne Tiere. Nur Stofftiere. Ich war eingesperrt. Von Svetlana bekam ich viel Spielzeug, Svetlana und Vater kauften mir alles.»
«Und wissen Sie noch, wie Olha zu Ihnen kam?»
«Nein. Ich erinnere mich nur an die Zeit, als sie schon da war.»
«Erzählen Sie mir davon.»
«Olha war fröhlich. Sie sang gern bei der Arbeit, beim Bügeln oder Staubwischen. Und wenn Vater und Tante nicht da waren, sang sie ukrainische Lieder. Oh, dieser Klang! Ich glaubte immer, mehrere Stimmen in ihrem Gesang zu hören, wie in einem Kanon. Viele Wörter hatten zwei Betonungen. Alles an ihr war in Bewegung. Ich wusste nicht, woher ich diesen Klang kannte, und doch war ich mit einem Mal an meinem Ursprung. In meiner Heimat, sozusagen.»
«Sie wissen ja jetzt, dass Ihre Eltern wahrscheinlich auf dem Land lebten, nicht wahr. Wo waren in der Zeit Ihre Adoptiveltern?»
«Vater im Krieg und Svetlana arbeiten. Sie kam oft spät nach Hause, manchmal gar nicht. Nur Olha war immer bei mir.»
«Worüber haben Sie mit ihr gesprochen, können Sie sich erinnern?»
Arkadij denkt nach.
«Ich war ja noch ein Kind, elf Jahre alt. Olha war schon zwanzig.»
«Woher kamen denn Olhas Eltern? In welchem Dorf lebten sie?»
«
Den Namen habe ich vergessen.»
Die nächste Sitzung, wenige Tage später, im Mai 1988 .
«Haben Sie nur gute Gefühle, wenn Sie an Olha denken?»
«Manchmal bin ich richtig böse auf sie, oft sogar. Sie liebt mich nicht, denke ich dann. Lässt mich hier allein, sie könnte mich doch suchen und holen. Sie weiß doch, wo ich wohne. Auch deshalb wollte ich nie wegziehen. Damit sie mich findet, wenn sie eines Tages will.»
«Und dann?»
«Dann denke ich wieder, sie wird irgendwo festgehalten. In einem Käfig. Sie kann gar nicht weg. Sie hat genau so eine Sehnsucht nach mir wie ich nach ihr. So nahe wir beide uns einmal waren, das kann nie vergehen. Die Sehnsucht kann sich in etwas anderes verwandeln, aber vergehen wird sie nicht. Es ist nicht Olhas Schuld, wenn sie mich nicht erreichen kann. Sie lebt in einem Schweinestall und weiß vielleicht nicht mal mehr, dass sie ein Mensch ist.»
Randbemerkung Dr. Guzman: Das Schwein scheint wichtig zu sein.
«Olha durfte nicht Ukrainisch mit mir sprechen. Sie tat es trotzdem, wenn wir allein zu Hause waren. Ihr Gesicht wurde dann ganz weich, der Blick lebendig. Sie wurde viel schöner. Und sie war so frech. Vater oder Tante waren noch im Treppenhaus, da summte sie mir schon leise ein ukrainisches Lied vor. Am schönsten war es für mich, wenn sie bügelte. Dann konnte sie nicht weglaufen.»
«Warum hätte sie denn weglaufen sollen?»
«Weil ich immer so viel geredet habe. Manchmal konnte sie das nicht mehr hören und ist aus dem Zimmer gegangen. Vom Bügelbrett konnte sie nicht weg. Also, ich legte mich auf die Couch und verschränkte die Arme hinterm Kopf. Ich hörte ihren Singsang und sah sie die ganze Zeit von der Seite. In ihrem Gesicht konnte ich versinken wie in einer Landschaft. Wenn ich die Augen schloss, war ich auf einer weiten Ebene, über die der Sommerwind wehte, die Samen
Weitere Kostenlose Bücher