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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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der so nah dran war?»
    «Fedorivka.»
    Konrad konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Das alles war so sinnlich und detailliert – und nicht im mindesten eine Antwort auf seine Frage.
    «Weiter oben im Norden, Richtung Weißrussland, findet man Überbleibsel der Roten Armee und der Wehrmacht», fuhr Arkadij fort. «Erkennungsmarken, Patronenhülsen, Granaten, grün überschimmelte Löffel steckten in der Erde. Und dann, in der Nähe der Pripjat-Sümpfe, entdeckte ich diesen großen, schimmernden Laufkäfer. Es war später Nachmittag. Ich war völlig erschöpft. Schon seit Stunden kein Motorengeräusch, keine menschliche Stimme mehr. Vielleicht lief ich schon durch die evakuierte Zone. Das Sonnenlicht fiel durch die Baumwipfel und brach sich im Laub. Hier gab es noch unberührtes Gebiet. So etwas wie Natur, einen Quell der Kraft, noch nicht von Menschen verdorben. Ich hockte mich ins Moos, legte mein stoppeliges Kinn an die weichen grünen Flechten auf einem umgestürzten Baumstamm und betrachtete selig diese kleine Welt zu meinen Füßen. Tautropfen hingen an Gräsern und Farnen wie vollgesogene Zecken, in ihnen blitzte das Sonnenlicht. Ich begann zu träumen. Und dann dieses Rascheln, kaum hörbar, gerade so, als striche man mit einem Zweig die scharfen Ränder der Grashalme entlang. Aber ich wusste sofort, dort bewegt sich etwas. Es stakste auf dem Moos auf mich zu. Ein Carabus ullrichi. Kennen Sie sich mit Käfern aus?»
    Konrad schüttelte den Kopf.
    «Die rechte Flügeldecke war geknickt und nach außen gewellt, die linke dadurch abgehoben. Ich war auf diesen Moment vorbereitet. Ich hatte Fotos und Zeichnungen von mutierten Lebewesen studiert. Ihre kleinen, manchmal ganz unauffälligen Veränderungen. Hier vermutete ich ja auch den Punkt des Bösen, ich war auf einiges gefasst, aber dass ausgerechnet ein Käfer es verkörpern sollte, war ein Schock.»
    «Haben Sie öfter Mitleid mit Tieren?»
    Arkadij stutzte. «Wir müssen noch einmal dorthin. Bringen Sie mir das nächste Mal bitte Landkarten mit!»
    «Was für welche?»
    «Das Umland, die Gegend nördlich von Kiew. Einige müssen noch in meinem Zimmer liegen. Vielleicht kriegen Sie Svetlana dazu, Sie dort reinzulassen. Und kaufen Sie mir alles, was Sie in den Buchhandlungen finden.»
    Konrad versprach es.
    Arkadij weitete seine magere Brust und atmete tief ein.
     
    Auf den flachen Stufen der großen Kirche, an der Konrad am anderen Tag vorbeikam, hockten an diesem sonnigen Mittag die Bettler. Männer mit Krücken oder amputierten Beinen, vor allem aber alte Weiblein. Der Gesang der Gläubigen drang durch die geöffnete Kirchentür, offenbar war Gottesdienst. Immer mehr Menschen kamen, sie trugen grüne Stiele mit langen Blättern. Konrad wagte sich ebenfalls hinein, spürte die warme Nähe der Menschen und blieb schließlich nicht weit vom Eingang stehen. Die Kirche war völlig überfüllt. Immer neue Menschen drängten nach. Als ihm bei dem Gesang das Wasser in die Augen stieg – nicht weil er gerührt gewesen wäre, sondern weil er überhaupt dazu neigte –, sah er durch den Tränenschleier nur noch ein phantastisches Großgemälde aus goldenen Verzierungen, Heiligengemälden, den bunten Lichtflecken, die durch die bemalten Kirchenfenster ins Gebäude fielen, und den hundertfachen grünen Tupfern. Die Priester hielten Birkenzweige und Blumen. Der Gesang wollte nicht enden, vergeblich wartete er auf eine Predigt, wie er sie aus den westlichen Kirchen kannte. Ein Sänger nach dem anderen stimmte sein Lied an.
    Als er verstanden hatte, dass es noch lange so weitergehen würde, bahnte er sich mühsam den Weg nach draußen. Im engen Durchgang stieß er aus Versehen eine jener alten Frauen an, die mit demütig gesenktem Kopf dort standen. Er streifte sie nur leicht an der Schulter. Doch die Alte, ein schmales, kindsgroßes Wesen, warf ihm, als er sich entschuldigte, einen so bösen, missgünstigen Blick zu, dass er es mit der Angst zu tun bekam. Einen Moment später auf der Treppe empfand er sogar die ausgestreckten Hände der Bettlerinnen als Bedrohung.
    Als er Svetlanas Wohnung erreichte, sah Konrad etwas von diesem bissigen alten Weib an ihr, es breitete sich wie ein Schatten über Svetlana. Er wehrte sich gegen diese Ähnlichkeit.
    «Hatte Ihr Mann eigentlich eine kirchliche Bestattung?», fragte er beim Essen. «Ich meine, gab es einen Priester?»
    «Sie fragen, weil heute Pfingsten ist? Natürlich war ein Priester dabei, aber Jurij war Atheist, und

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