Der wahre Sohn
verstehe ich nicht. Die Deutungen in der Krankengeschichte sind sehr spärlich.»
«Sie haben recht, das ist ein zentraler Punkt. Irgendwann ist mir klargeworden, dass diese Angstvorstellung von der Frau, die auf dem Rücken liegt, ein reales Vorbild haben muss, ein traumatisches Kindheitserlebnis. Erinnern Sie sich an die Küchenszene mit dem Kindermädchen? Da gibt es Unstimmigkeiten. Meine Kollegen gingen darüber hinweg. Sie haben dem keine Aufmerksamkeit geschenkt. Oder wollten es nicht sehen.»
«War Dr. Holota damals schon an der Klinik?»
«Wer?»
«Ein Arzt aus der Männerpsychiatrie.»
«An den Namen kann ich mich nicht erinnern. Also, die Kollegen sagten, ein geistig Verwirrter bringe eben manches durcheinander. Arkadij sah Etagenfrauen, die er umgestoßen haben wollte. Dann wiederum Männer und grüne Uniformstoffe. Das wunderte niemanden. Ich aber fragte mich, wie grün uniformierte Männer in die Küche gekommen sein sollen. Mir wurde klar, dass sich da etwas überlagert haben muss. Ich überlegte, wie seine eigene Mutter gestorben sein könnte. Wenn er mit drei Jahren zur Waise wurde, dann muss das 1932 oder 1933 gewesen sein. Das war die Zeit des Holodomor. Damals wurden aufsässige Bauern, nicht nur in der Ukraine, vom Sowjetregime umgebracht – durch organisierte oder tolerierte Hungersnot.»
«Davon steht nichts in den Akten.»
«Natürlich nicht. In den achtziger Jahren war das Thema unerwünscht. Ich habe es einige Male ins Gespräch gebracht, aber niemand ging darauf ein. Irgendwo habe ich handschriftlich etwas dazu in den Protokollen vermerkt. Das müssten Sie dort finden. Dass Arkadijs Geschichte damit zusammenhängt, war ja auch nur eine Annahme, mehr nicht. Zu der Zeit hat man offiziell nicht über den Holodomor gesprochen.»
«Und heute?»
«Heute können Sie über alles sprechen. Es hilft nur nichts», lachte Guzman. «Die Zeitungen dürfen alles schreiben, es ändert sich trotzdem nichts. Aber im Ernst: Wie wollen Sie in so ferner Vergangenheit noch ermitteln? Es gibt fast keine Zeugen mehr.»
«Ich habe eine alte Krankenschwester getroffen. Sie erinnert sich noch daran, wie Arkadij zum ersten Mal in die Klinik kam.»
«Mein Gott, Schwester Halyna. Die ist immer noch da? Sie hat Arkadij sehr gemocht. Aber sie weiß natürlich auch nicht, was er während der Hungersnot erlebt hat. Dokumente gibt es keine mehr, sogar die Geburtsurkunden der Opfer wurden nach Moskau geschafft, niemand hatte je Zugang zu ihnen. Offiziell gelten die Toten als verschollen. Selbst wenn wir die Namen von Arkadijs Mutter oder Vater in Erfahrung bringen würden, könnten wir nichts beweisen.»
«Er wusste ja bis vor kurzem noch nicht mal, dass er ein Adoptivkind ist.»
«Auch richtig. Geahnt hat er es aber seit langem.»
«Deshalb nennt er Svetlana immer bei ihrem Namen oder Tante.»
«Wir haben das erst falsch gedeutet. Schizophrene verlieren oft das Gespür für verwandtschaftliche Nähe und bezeichnen Mutter und Vater als Tante oder Onkel. Sie bilden sich ein, dass ihre Eltern nicht die leiblichen Eltern sind. Erst auf diese Vermutung hin haben wir die Solowjows eingehend befragt und das mit der Adoption herausbekommen. Aber Arkadij ist nicht schizophren. Seine Psychose wurde durch traumatische Erlebnisse in der Kindheit und Jugend verursacht.»
«Aber diese Erlebnisse sind ziemlich unbestimmt.»
«Richtig. Wissen tun wir gar nichts, das ist so bei der Analyse der frühen Kindheit. Genau wie mit dem Missbrauchsverdacht, das war bei Ihnen im Westen doch groß im Gespräch.»
«Sie meinen Alice Miller.»
«Ja, genau, und als alle Welt über ihre Theorie sprach, wollte plötzlich jeder ein Missbrauchsopfer sein. Die Menschen reden sich solche Dinge gerne ein. Wenn man als Kind missbraucht worden ist, hat man eine Erklärung für all den Mist, den man im Leben macht. Opfer sein bietet einen gewissen moralischen Komfort. Deshalb will ja heute auch jeder Jude sein.» Er lächelte.
«Und wenn man Arkadij einfach fragt?»
«Da werden Sie nicht weit kommen. Die Erinnerung an dieses frühe Alter ist sehr verschwommen oder ganz weg. Bei ihm haben sich außerdem zwei Frauengestalten übereinandergeschoben, sogar ineinander, seine leibliche Mutter und das Kindermädchen. Er wird sie gar nicht mehr unterscheiden können. Nach seiner Mutter kamen andere, ähnliche. Im Kinderheim eine junge Betreuerin namens Olena, als er vier oder fünf war. Später die Schwester Ksenija in unserer Klinik. Alles schlanke
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