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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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Verlängerungen seiner Gliedmaßen. Im silbrigen Licht des Diaprojektors standen die Haare auf seinen dürren Unterarmen ab. Wenn ich mich in sein Zimmer verirrte, hob er nur stumm den Kopf, ein einziger Vorwurf. Wie ich diesen Blick hasste! Man durfte kaum auftreten, schon die geringste Erschütterung brachte den Aufbau durcheinander. Manchmal hab ich ihn selbst gehasst, manchmal hab ich gedacht: Nun stirb doch endlich! Tu, was du vor fünfzig Jahren hättest tun sollen, in deinem ukrainischen Dorf, mit deinem sturen Bauernweib von Mutter, so geizig und hartherzig, dass sie den sowjetischen Arbeitern, die in ihrem Schweiß den Sozialismus aufbauten, das Brot verweigerte. Am Ende ist sie selbst an ihrem Brot erstickt. Fressen wollen diese Bauersfrauen, sonst nichts. Sehen Sie sich doch diese Marktweiber an, wie sie stumpfsinnig vor ihrem Zeug hocken und sich mechanisch eine Rosine nach der anderen ins Maul schieben, einen Sonnenblumenkern nach dem anderen! Dreckig, schmierig, selbstzufrieden. So sind die vom Land. Das ist es, womit wir es zu tun hatten. Diese Rückständigkeit. Wir wollten den Fortschritt, wir wollten alles klar und menschlich machen, unter Kontrolle bringen, das Tierische im Menschen besiegen.»
    «Aber Arkadij ist kein Tier!», empörte sich Konrad. «Er ist vielleicht unbeholfen und denkt um drei Ecken, aber er ist sehr feinsinnig.»
    «Sie sind ja regelrecht in ihn vernarrt. Nein. Er hat das alles geerbt. Jede Erziehung ist vergeblich, wenn die Gene dagegenarbeiten. Wozu habe ich ihn damals nur aufgenommen?»
    «Sie übertreiben.»
    «Vielleicht war es die Sprache.»
    «Wie?»
    «Ich weiß, dass sie Ukrainisch mit ihm gesprochen hat», sagte Svetlana fast böse. «Sobald wir aus dem Haus waren. Manchmal rutschte ihr eine Wendung oder ein Wort heraus. Sie hatte sowieso nichts im Griff, geschweige sich selbst. Sie wissen, wie leichtsinnig und dumm diese Dinger vom Land sind.» Den letzten Satz sagte Svetlana mit bitterem Nachdruck.
    «Warum wollten Sie denn nicht, dass Olha mit Ihrem Sohn Ukrainisch spricht?»
    «Na, hören Sie. Er sollte eine Weltsprache lernen, nicht diesen primitiven Bauerndialekt. Ich weiß, Sie sind wie üblich anderer Meinung.»
    «Aber die Sprachen sind doch eng verwandt», wandte Konrad ein.
    «Das ist ja gerade das Problem. Wenn es etwas ganz anderes wäre, halb so schlimm. Aber Kleinrussisch klingt zwar so ähnlich wie Russisch, nur versteht man trotzdem nichts. Und viele Wörter bedeuten etwas ganz anderes. Kleinrussisch liegt im Niemandsland. Eine Weder-noch-Sprache ohne eigene Kultur, für die sie sich eigentlich schämen sollten.»
    «Schämen?»
    «Ja, für ihre Unentschiedenheit. Die Ukrainer wissen doch selbst nicht, was sie wollen. Die kyrillische Schrift haben sie von uns, sprechen tun sie wie die Polen. Und trotzdem haben sie bei erstbester Gelegenheit reihenweise Polen niedergemetzelt, dort in Wolhynien. Grausam abgeschlachtet mit dem Messer. Ist Ihnen das bekannt? So etwas lernt man bei Ihnen bestimmt nicht in der Schule. Das meine ich mit Hinterlist.»
    Svetlana wurde nachdenklich.
    «Aber zärtlich konnte sie sein. Lieb war sie. Wenn sie ihn im Arm hielt und an sich drückte, dann flüsterte sie immer ‹No ty muj chloptschyk› – ‹na, mein kleiner Junge›. Oder sie sagte ‹Sonetschko moje›, meine kleine Sonne. Sie weckte ihn aus dem Mittagsschlaf mit ‹sonjko ty›, alte Schlafmütze. Er war wie Wachs in ihren Armen. Die ukrainischen Worte machten ihn völlig wehrlos und ließen ihn erschaudern. Und ich stand in der Tür und sah zu.»
    «Sonetschko», sprach Konrad nach. «Schönes Wort.»
    «Ja. Sprechen Sie das ein paarmal hintereinander aus. Dann merken Sie, es ist schon fast ein Lied.»
    Konrad tat es, Svetlana sah ihn gerührt an.
    «In solchen Momenten tat ich, als wäre ich nicht verletzt, ich schenkte den beiden ein Lächeln und ging weiter, in die Küche, irgendwohin. Ich merkte ja, dass sie viel besser mit ihm umgehen konnte als ich.»
    «Sie können Ihre Gefühle ganz gut verstecken, stimmt’s?», sagte Konrad.
    «Anders hätte ich das nie überlebt. Wenn ich ihn an meine Brüste drückte, bekam er immer Erstickungsanfälle und wollte sich losreißen.»
    «Ja, das sagten Sie», unterbrach Konrad sie, weil er fürchtete, sie würde wieder mit diesen Geschichten anfangen.
    «Aber sie … Er war vorher so steif und ängstlich gewesen. Jetzt wurde er weich. Nach dem Krieg hat er sich sogar ein paar ukrainische Bücher besorgt und wollte

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