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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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die Sprache lernen.»
    «Was für Bücher?»
    «Keine Ahnung. Ich liebe die Literatur und wollte ihn heranführen. Olha hatte gar keinen Sinn dafür. Wissen Sie, ich glaube, sie konnte nicht richtig lesen. Ich hatte ihm noch Kinderbücher vorgelesen. Als Olha kam, wollte er nicht mehr zuhören. Ich hatte den Ehrgeiz, dass er ein großer Wissenschaftler wird, der in einer Weltsprache publiziert. In einer Sprache, die einem keine Schande macht. Deshalb habe ich ihn später auch ermuntert, programmieren zu lernen. Damals war die Sowjetunion führend auf dem Gebiet der Großrechner, wussten Sie das? Wir waren weiter als die Amerikaner. Aber irgendein Dummkopf hat entschieden, dass wir unser Modell aufgeben und uns dem IBM unterwerfen.»
    «Und Arkadij?»
    «Der lauschte Olhas kleinrussischen Ammenmärchen. Das ist bestimmt ein Grund für seine krankhafte Phantasie. Die meisten Geschichten hat sie sich selbst ausgedacht. Ich lag auf der Couch oder im Schlafzimmer und las still für mich, hörte mit einem Ohr zu, damit sie ihn nicht ganz verdarb.»
    «Was haben Sie gelesen?»
    «‹Anna Karenina› las ich damals, zum Beispiel. Später war da keine Frau mehr, die ihm die Hand auf die Schultern legen und ihn beruhigen konnte. Keine Kinder, die ihn ablenkten. Immer nur er allein mit diesen Büchern und Landkarten. Und dieser Gedankenwolke.»
    «Und Sie?»
    «Was, ich?»
    «Haben Sie Ihrem Sohn manchmal die Hand auf die Schulter gelegt?»
    Sie schüttelte empört den Kopf. «Er war doch Berührung gar nicht mehr gewöhnt. Er zuckte schon zusammen, wenn ich ihn im Flur aus Versehen angestoßen habe. Er wusste nie, wie man mit einer Frau umgeht.» Sie beugte sich über den Tisch und flüsterte: «Ich glaube, er hat nie eine gehabt.»
    «Sind Sie sicher?»
    «Na ja, vielleicht draußen, ohne dass wir es mitbekommen haben.» Sie biss sich auf die Lippen. «Verstehen Sie doch, wie das damals war. Diese Ruhe in Arkadijs Zimmer war eine tickende Bombe. Schlimmer, als wenn wirklich etwas passierte. Jedes Geräusch war besser als diese Stille.»
    «Das wollte ich Sie schon die ganze Zeit fragen. Woher haben Sie eigentlich die Kuckucksuhr?»
    «Ein Geschenk.»
    «Aus Deutschland?»
    Sie neigte lächelnd den Kopf. «Was glauben Sie?»
    «Weiß ich doch nicht. Von wem ist sie?»
    «Sie müssen nicht alles wissen.»
    Konrad überkam eine blitzartige Wut. «Doch, das muss ich wohl», rief er, «wenn ich herausfinden will, wo das Auto ist, muss ich alles wissen. Alles!» Er stampfte mit dem Fuß auf.
    Svetlana schaute ihn erschrocken an. «Nun reißen Sie sich aber mal zusammen!»
    «Gut, ich pfeif auf Ihre Kuckucksuhr.» Konrad war der Anfall gleich selbst unangenehm. «Erzählen Sie weiter.»
    «Jetzt haben Sie mich durcheinandergebracht. Dass Sie auch so unbeherrscht sind. Wo war ich? Ach ja. Die Stille, das war das Schlimmste. Wir mussten jederzeit damit rechnen, dass er herausgestürmt kommt, mit gepacktem Rucksack. Wie einmal, da hatte er den nicht zugeschnallt, irgendetwas baumelte, wie bei einem Clochard. Jurij ist ihm nachgerannt und hat ihm den Rucksack zugeknöpft. Sollten wir jedes Mal die Miliz benachrichtigen? Er war schließlich volljährig.» Sie atmete tief ein, die Erinnerung hatte sie mitgenommen. «Wenn er dann endlich weg war, haben Jurij und ich aufgeatmet. Wir sahen uns nur wortlos an, jeder ging weiter seiner Beschäftigung nach. Mein Mann hat Modellkriegsschiffe der Sowjetmarine gebaut. Ihm hat das alles sehr zugesetzt, er hat Arkadij sehr geliebt. Auch wenn es nicht sein leiblicher Sohn war. Das ist mir erst in den letzten Jahren richtig klargeworden.»
    Sie machte eine Pause.
    «Vielleicht hat er sich doch immer ein eigenes Kind gewünscht.»
     
    «Was hat sie gesagt?», fragte Arkadij später.
    «Wer?»
    «Svetlana. Sie haben doch mit ihr gesprochen?»
    Konrad zögerte.
    «Geben Sie es zu. Ihre Sprache verändert sich dann immer. Sie ist wie ein Schwamm. Ich spüre sogar, ob Sie gerade erst bei ihr waren oder ob es länger her ist.»
    «Stimmt», gab er wie unbeteiligt zu, «ab und zu unterhalte ich mich mit Ihrer Mutter. Das wissen Sie doch.»
    «Wann werden wir etwas unternehmen?»
    «Was?»
    «Sie sagten, wir beide würden herausfinden, was passiert ist.»
    «Warten Sie. Darf ich Ihnen eine Frage stellen?»
    Arkadij nickte gnädig.
    «Waren Sie schon einmal ganz nah dran?»
    Arkadij sah ihn schräg an, als witterte er Ungläubigkeit in der Frage. «An Olha, meinen Sie? Einmal, ja. Ich war seit zwei Jahren

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