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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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unterwegs und hatte fast nichts gegessen.»
    «Zwei Jahre lang?»
    Arkadij guckte verunsichert, korrigierte sich dann: «Tage, oder? Na gut, dann Tage. Ich fuhr mit dem Bus. Dieses Mal hatte ich Sachen angezogen und war nicht im Schlafanzug, es war ziemlich kalt. Der ungeheizte Kasten war bis auf den letzten Platz besetzt, im Mittelgang drängten sich Kolchosbäuerinnen oder Arbeiterinnen, die aus der Fabrik kamen. Alle wollten aufs Land. Und ich mittendrin, eingezwängt zwischen diesen Frauen mit ihren ledernen Gesichtern. In der Enge wurde mir angenehm schwindlig, aber zum Umfallen war gar kein Platz, ich roch ihren Schweiß, ich schnupperte, ob er mich an Olha erinnerte, aber da waren zu viele Gerüche. Und ich, der kleine Arkadij, der kein Mann war, plötzlich unter all diesen Frauen. Mit jedem Atemzug ließ ich mich ganz auf ihre körperliche Anwesenheit ein.»
    Konrad bereute seine Frage. Als hätte er zufällig einen Hebel umgelegt, war Arkadij in diesen selbstgefälligen dichterischen Stil verfallen, aus dem er so schwer herauszureißen war. Man musste ihn ausreden lassen, auch wenn er sich um Logik einen Teufel scherte. In diesem Moment hatte Konrad Verständnis für Svetlana. So undurchschaubar und narzisstisch die alte Frau war, ihr Kopf war doch sehr klar. So einen Sohn hätte sie nur ertragen können, wenn sie ihn wie ihren eigenen liebte.
    «Ich mied den Blickkontakt», sagte Arkadij, «starrte wie abwesend vor mich hin, ich durfte ja nicht auffallen, aber komischerweise, haben Sie das mal beobachtet, sieht man bestimmte Dinge gerade dann schneller, wenn man nicht genau hinguckt. So gern hätte ich mich fallen lassen, wäre aufgegangen in der atmenden, dampfenden Menge, aber kurz bevor ich einschlief, durchzuckte mich die unbestimmte Angst, sie könnten sich auf mich stürzen, mich vergewaltigen, töten, mich aus dem Bus werfen. Man hätte mich erst nach Wochen gefunden, wenn überhaupt je. Wahrscheinlich wäre mein Körper verschwunden.»
    «So wie der von Olha?»
    Arkadij sah ihn, aus seiner Rede gerissen, nur einen Augenblick lang misstrauisch an.
    «Als mir dann dieser Rauch in die Nase kam, bin ich spontan ausgestiegen. Der Bus hielt an einer Dorfstraße. Es war Winteranfang. Draußen lag Raureif, und aus den Schornsteinen drang der Qualm von verbranntem, zu feuchtem Holz, wie von einer Räucherei, einer Metzgerei. Ein Duft nach Selchfleisch, nach den allergrößten Delikatessen, und zugleich so vertrauenswürdig, dass ich mich dem einfach hingeben wollte. Heute kann ich das nicht erklären, aber damals wusste ich sofort, dass ich auf der richtigen Spur war. Weidenholz? Pappeln? Der saure Geruch der Pappeln, die an der Straße lagen. Nicht das Astgewürm, das der Sturm im Herbst herabreißt, diese dürren, knubbligen Teile, sondern dicke, lange Stämme. Die ganze Dorfstraße war gesäumt von frisch gefällten Pappeln. Die Stämme lagen da, die Armen, sie trieben im Tod noch grüne Blätter. Eine Frau kam mir entgegen und erzählte mir, dass die Wurzeln der Bäume sich unter die Häuser graben und den Seelen der Menschen schaden. Ich war erschrocken. Man sagt ja, die bäuerliche Bevölkerung sei unverdorben und gesund. Von wegen. Statt sich wegen der radioaktiven Strahlung zu sorgen, fürchteten sie Gespenster. Pappeln. Schlimm, dass Olha wieder unter solchen Menschen leben muss, dachte ich. Sie tat mir unendlich leid. Ich sah sie dort in einem Käfig aus Weidenruten sitzen, am Rande des Dorfes. Einmal am Tag wurde sie gefüttert. Ihr Rücken war ganz krumm geworden, der Käfig war viel zu klein. Alles zur Strafe dafür, dass sie mit mir …»
    Er schluckte.
    «Was? Was hat Olha getan?»
    «Sie wissen es doch längst. Jetzt war ihr Rückgrat verbogen. Sie war für immer verkrüppelt. Als junges Mädchen war sie so groß und gerade gewesen. Es wollte mir das Herz zerreißen.»
    «Sie kam Ihnen so groß vor, weil Sie ein Kind waren. Svetlana sagt, sie sei klein gewesen. Aber warum sollte jemand eine Frau in einen Käfig sperren? Das war ein Albtraum.»
    «Wer will das unterscheiden?»
    «Sie haben also wieder nichts gefunden.»
    «Nein. Ich war so aufgeregt, ich wurde fast wahnsinnig. Ich fragte überall herum. Ich schlich auf Höfe, schaute hinter die Scheunen, Kettenhunde sprangen mich an, ich dachte wirklich, sie könnte irgendwo eingesperrt sein.»
    «Also wieder der falsche Ort?»
    «Haarscharf daneben. Der Geruch war ganz nah dran. Sie hätte dort sein können.»
    «Und wie hieß dieser Ort,

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