Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman
man sie dort in einer oder vielleicht zwei Reihen hingelegt.
Der Engel schlief, aber der Schmerz des verstauchten Fußes drang bis in seinen Traum vor und so träumte er, dass er ein Ziehen in seinem Fuß verspürt und dass er, während er versucht irgendwohin zu gehen – wahrscheinlich in eben dieses Neue Gelobte Land –, sich quält und jeden Schritt, den er in die gewünschte Richtung tut, mit schrecklichen Schmerzen bezahlt. Und wegen dieser Schmerzen sieht er nichts und niemanden um sich herum, denkt nur an eines, das ihm Sorge macht: nicht hinter den anderen zurückzubleiben, nicht den Anschluss zu verlieren. Und er geht tatsächlich in völliger Einsamkeit dahin und sein einziger Begleiter ist der Schmerz, der schrecklich ist und quälend, aber der Engel kann ihn nicht loswerden.
Inzwischen stieg die Sonne immer höher und die Schatten wurden kürzer. Nach und nach erwachten einer nach dem anderen die, die am Leben geblieben waren: die Rotarmisten, die Bauern und die Bauarbeiter. Sie suchten die Zusammenkunft, um über das tragische Geschehen zu sprechen, sie versuchten, einen Grund dafür zu finden oder auf andere Art den Tod der Gefährten zu erklären. Aber sie konnten keine Erklärung finden, mit der alle einverstanden waren.
Der Engel schlief immer noch. Er lag im Schatten einer hohen Tanne verborgen, den die Sonne noch nicht zurückgedrängt hatte.
„Archipka! Wo ist Archipka?“, fragte einer der Männer laut, der eine schmutzige, mit getrocknetem Lehm verschmierte Wattejacke trug.
„Was ist?“, antwortete Archipka-Stepan mit heiserer Stimme, offensichtlich hatte er sich nachts eine Erkältung auf dem kühl gewordenen Erdboden geholt, auf dem er geschlafen hatte.
„Gehen wir!“, sagte der Mann. „Du wirst gebraucht. Du musst entscheiden, wie wir die Unsrigen hier begraben und was wir weiter tun sollen.“
Archipka-Stepan ging mit.
„Da ist er, lasst Archipka durch!“, übertönte der kleinwüchsige Bucklige die sich streitenden Menschen mit lauter Stimme. „Er soll entscheiden!“
Man ließ Archipka in die Mitte durch und schon wurde er dort mit Fragen überhäuft, aber es herrschte ein derartiges Stimmengewirr, dass der entflohene Kolchosbauer, der den Weg ins Neue Gelobte Land kannte, durcheinandergeriet und kein Wort sagte.
„Einer nach dem anderen!“, bat er, als der Chor verstummte.
„Wie sollen wir sie beerdigen? Mit einer Gewehrsalve oder sollen wir einen Popen suchen für den letzten Segen?“, brachte einer der Rotarmisten rasch vor.
Archipka-Stepan dachte lange nach. Dann sagte er:
„Sowohl eine Salve als auch den Segen, damit es ehrenvoll ist.“
„Und begraben? Alle auf einmal oder sollen wir hier einen Friedhof errichten?“, ertönte die nächste Frage.
Archipka-Stepan begriff, dass es keine leichte Sache war, die Wertschätzung seiner Mitbürger zu genießen. Wäre er jetzt einfach nur ein entflohener Kolchosbauer, dann würde ihm niemand so schwierige Fragen stellen und vor allem keine verbindlichen Antworten verlangen.
„Lasst mich ihm helfen!“, schlug plötzlich der kleinwüchsige Bucklige der Menge vor und drängte sich näher zu Archipka hin.
„Wer bist du denn? Sein Bruder etwa?!“, fragte einer der Stachanow-Arbeiter unfreundlich.
„Ich war Buchhalter“, antwortete der Bucklige mit unverhohlenem Stolz auf seine Vergangenheit.
„Archipka soll entscheiden, ob er dich als Gehilfen haben will!“, meinte einer der Rotarmisten schon etwas versöhnlicher.
„Ja, er soll mein Gehilfe sein!“, antwortete Archipka-Stepan erfreut.
„Na dann los, hilf mal schnell!“, sagten sie zu dem buckligen Buchhalter.
„Also, wie war die Frage noch einmal? Wie man sie begraben soll?“, fragte der Bucklige nach. „Also, ich denke Folgendes: Wir müssen die Verstorbenen für drei Gruben vorsortieren, die Rotarmisten zu den Rotarmisten, die Bauarbeiter zu den Bauarbeitern und die Kolchosbauern zu den Kolchosbauern. Dann machen wir eine Bestandsaufnahme und graben sie gemeinsam ein, damit wir wissen, wer wo liegt.“
„Die Sache kann sich sehen lassen!“, stimmte einer der Kolchosbauern ihm bei.
„Und die Frauen?“, fragte einer. „Wo graben wir die Frauen ein? Es sind doch alles Bäuerinnen …“
„Aber es gibt ja gar keine Frauen dort!“, gab ein anderer zur Antwort.
„Was heißt, es gibt keine? Wurde denn keine einzige getötet?!“, wunderte sich ein Dritter laut.
Ein Rotarmist stieg zu den Toten hinunter, schaute nach und bestätigte, als
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