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Der Wald der Könige

Der Wald der Könige

Titel: Der Wald der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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beide ihn mir vielleicht bringen?«
    Mrs. Tottons Abstellkammer entpuppte sich als sorgfältig geplante Lösung des Problems, vor dem so viele Angehörige ihrer Schicht standen, wenn sie von einem Herrensitz in ein kleines Haus umziehen mussten: Wohin mit den unzähligen Papieren, Familienbildern und anderen Dokumenten aus der Vergangenheit, die sich in einem Häuschen einfach nicht unterbringen ließen? Mrs. Tottons Antwort auf diese Frage hatte darin bestanden, einen großen Lagerraum anzubauen. Von den Wänden blickten finster die riesigen Familienporträts herab, die in den Zimmern des Hauses erdrückend gewirkt hätten. Mrs. Tottons verstorbener Bruder hatte etwa zwanzig Kisten säuberlich auf Regalbrettern angeordnet. Jede davon war beschriftet und enthielt die Papiere und Erinnerungsstücke des jeweiligen Vorfahren. Außerdem gab es noch Regale mit Schwertern, alten Angelruten aus Rohr, Peitschen und Reitpeitschen. Einige Schränke enthielten Uniformen, Reitröcke, Spitzenkleider und andere Modeartikel, sorgfältig mit Mottenkugeln vor dem Zerfall geschützt. Rasch hatten sie den Lederkoffer gefunden und schleppten ihn den Flur entlang ins Wohnzimmer, wo sie ihn öffneten.
    Der Oberst hatte nur ungern Briefe geschrieben, doch er hatte von jedem eine Abschrift anfertigen lassen, sodass nicht nur die eingehende, sondern auch die ausgehende Korrespondenz fast vollständig archiviert war. Eine herausragende Leistung für einen Mann, der Papierkram verabscheute. Die Briefe waren nicht chronologisch, sondern nach Themen sortiert, jeder Stapel steckte entweder in einem Umschlag oder war mit Packpapier umhüllt und ordentlich in der markanten Handschrift des Oberst gekennzeichnet.
    Die drei Frauen gingen alle Stapel durch und suchten nach einem, der die Aufschrift »Pride« trug – aber vergeblich.
    »Ach, du meine Güte«, seufzte Mrs. Totton. »Es tut mir Leid. Offenbar habe ich etwas verwechselt.«
    »Das macht nichts«, erwiderte Dorothy. »Es war nett von Ihnen, dass Sie daran gedacht haben.«
    Sie fingen an, die Briefe wegzupacken.
    »Schaut!«, rief Imogen aus und hielt ein Päckchen hoch, auf dem »Furzey, Minimus« stand. Der Oberst hatte diese Worte ärgerlich unterstrichen. »Darf ich?«
    »Natürlich.«
    Es handelte sich um einige zum Großteil kurze Briefe. Einer jedoch, der etwas länger war, begann mit den knappen Worten: »Sir, es mag Sie interessieren, dass der Mann, den ich vor etwa zwei Jahren mit Nachforschungen beauftragt habe, mir vor kurzem eine Antwort zukommen ließ.«
    »Was hat das zu bedeuten?«, fragte Imogen. Sie las weiter, sagte »Oh!« und vertiefte sich wieder in das Schreiben. »Dottie«, meinte sie dann und berührte die junge Journalistin am Arm. »Ich glaube, wir haben sie.«
     
     
    Miss Pride wurde gefunden. Sie ist gesund und wohlauf. Vermutlich müssen wir Gott dafür danken. Sie lebt in Sünde mit einem Mann, der angeblich Künstler ist und einen schlechten Ruf hat – offenbar einem Menschen, der Ihnen sehr ähnelt.
    Man hat versucht, sie dazu zu überreden, zu ihren Eltern zurückzukehren oder sie wenigstens wissen zu lassen, dass sie wohlauf ist. Doch sie weigert sich strikt. Ob es daran liegt, dass sie so tief gesunken ist und sich an ein Leben in Sünde gewöhnt hat, oder ob sie sich schämt, ist schwer zu sagen. Unter den gegebenen Umständen halte ich es für besser, es ihren Eltern zu verschweigen.
    Möglicherweise denken Sie jetzt ja darüber nach, Sir, dass Sie und nur Sie allein die Schuld an Dorothy Prides Ruin tragen.
    Ich schreibe deshalb »möglicherweise«, da ich weiß, wie fern es Ihrem Charakter liegt, aus Ihrem Verhalten moralische Schlüsse zu ziehen.
    Abschließend möchte ich Ihnen noch versichern, dass mein Ekel und mein Abscheu Ihrer Person gegenüber von Jahr zu Jahr zunimmt.
     
     
    »Ich denke fast, das war Ihre Urgroßmutter, Dottie.«
    »Ganz bestimmt. Sie hat mit einem Künstler zusammengelebt.«
    »Und mein Urgroßvater… es tut mir Leid.«
    »Nun, wir haben sie gefunden«, sagte Mrs. Totton. »Es ist vor langer Zeit geschehen. Dennoch: Willkommen daheim, Dottie. Wenigstens wissen wir es jetzt.« Sie blickte zur Uhr auf dem Kaminsims. »Meine Lieben, es ist Zeit für einen Drink.«
    Doch Dottie lehnte entschuldigend ab. Sie musste heute Abend noch unbedingt etwas arbeiten. Also bedankte sie sich bei den beiden Frauen und wollte gehen.
    »Soll ich Ihnen helfen, die Papiere wieder zurück in die Abstellkammer zu bringen?«, fragte

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