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Der Wald - ein Nachruf

Der Wald - ein Nachruf

Titel: Der Wald - ein Nachruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Wohlleben
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soll den hungernden Rehen, Hirschen und Wildschweinen helfen, über die angeblichen so strengen Winter zu kommen. Ein Akt der Selbst losigkeit? Wohl kaum, denn tatsächlich gilt diese Versorgung im mer nur den Arten, deren Schmuck später über dem Wohnzimmersofa landen soll. Eichhörnchen, Dachse, Füchse oder Wildkatzen gehen leer aus. Aber keine Sorge, auch ihnen fehlt nichts. Schließlich sind sie seit Jahrtausenden daran gewöhnt, mit den wechselnden Jahreszeiten zurechtzukommen. Die kalten Monate verbringen sie dösend im Unterholz. Wissenschaftler der Universität Wien haben entdeckt, dass Hirsche ihre Unterhauttemperatur bis auf 15 Grad Celsius absenken können, um Energie zu sparen – für große warmblütige Säugetiere eine Sensation. Nach Aussage von Projektleiter Walter Arnold ist dies ein dem Winterschlaf ähnliches Verhalten. 15 Mit dieser Sparstrategie reichen die im Herbst angefressenen Fettreserven bis zum nächsten Frühjahr und lediglich schwache oder kranke Tiere verhungern: eine natürliche Methode, um die jeweilige Art genetisch gesund zu halten.
    Für die Jäger ist es aber schöner, wenn möglichst viele überleben, denn dann gibt es jeden Abend auf dem Hochsitz etwas zu sehen. Überpopulation erzeugt jedoch Stress und der äußert sich bei Wildtieren in geringerem Körpergewicht, speziell bei Rehen auch in kleinen Geweihen. Das ist ein unerwünschter Nebeneffekt, denn das angestrebte Ziel der Jäger lautet: viel Wild mit möglichst großen Trophäen. In Verkennung der wahren Ursachen versuchen sie, die schwachen Exemplare aufzupäppeln. Und das lassen sie sich einiges kosten. Wie viel Futter etwa für Wildschweine jährlich ausgebracht wird, verriet mir ein Kollege mit Kontakt zum Umweltministerium in Rheinland-Pfalz: Pro geschossenem Borstentier sind dies durchschnittlich 130 Kilogramm Kraftfutter.
    Die Zeitschrift Ökojagd hat 2009 beispielhaft Angaben von Jagdpächtern zur Fütterungspraxis umgerechnet. Dabei kam sie auf 12,5 Kilogramm Mais pro Kilogramm erlegtem Wildbret 16 – das ist dreimal mehr Futter, als die Fleischindustrie bei ihrer Massentierhaltung verbraucht. Und wie die Natur nun einmal so ist, wird Nahrung sofort in Reproduktion umgesetzt, sodass die Individuenzahl explosionsartig in die Höhe schießt. Wildschweine in Weinbergen, Hausgärten oder sogar auf dem Berliner Alexanderplatz sind die Folge, denn der Wald wird für die Massen langsam zu eng.
    Vonseiten der Jäger bemüht man sich, die eigentliche Ursache zu verschleiern. Die Landwirtschaft sei mit ihren großen Maisäckern, wahren Schweineeldorados, schuld. Auch der Klimawandel mit seinen warmen Wintern begünstige das Anschwellen der Popula tion. Draußen im Wald, wo die Öffentlichkeit kaum hinsieht, wird derweil alles hingekippt, was für die Beutetiere schmackhaft sein könnte. So fand ich zu Beginn meiner Dienstzeit ganze Lkw-Ladungen Tulpenzwiebeln auf einer Lichtung. Sie waren offensichtlich nicht für den Handel geeignet und mussten entsorgt werden. Und der Jagdpächter dachte wohl: »Warum nicht das Nützliche mit dem Notwendigen verbinden?«, und ließ die Fracht kurzerhand in den Wald transportieren. Den Wildschweinen scheint es geschmeckt zu haben, denn nach wenigen Wochen waren die Zwiebeln verschwunden.
    Bei Wildfütterungen werden auch Äpfel entsorgt, die nach EU-Recht zu klein, zu leicht oder formbedingt nicht der Norm entsprechen. Eine Bekannte erzählte mir, dass der Pächter ihres Heimatdorfs im Hunsrück tonnenweise Pralinen verstreuen würde. Diese seien zumindest optisch so frisch, dass einem das Wasser im Mund zusammenlaufen würde. Jäger verhalten sich im Prinzip wie der Wirt eines großen Restaurants vergangener Jahrzehnte. Damals war es üblich, zur Verwertung der Essensreste einen Stall voller Schweine zu haben, um aus verschmähtem Putengulasch, Herzoginkartoffeln oder Speckbohnen wieder frische Lebensmittel zu erzeugen. Nichts anderes ist die Fütterung im Wald. Sie unterscheidet sich nur durch die Art des Stalls, der viel größer und mit Bäumen bestanden ist.
    Mittlerweile sind die ursprünglichen Verhältnisse eines Urwalds völlig auf den Kopf gestellt. Gab es früher ein Reh pro Quadratkilometer Waldfläche, so sind es heute durchschnittlich 50. Hirsche als Steppentiere waren im Wald kaum anzutreffen, ähnlich war es bei Wildschweinen. Aktuell kommen zu den Rehen in etlichen Forsten noch etwa zehn Hirsche und zehn Wildschweine dazu, sodass ein wahres Gedränge herrscht. Ein

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