Der Wald - ein Nachruf
Naturschutz und Forstwirtschaft auf ein und derselben Fläche funktioniert aber in der Praxis leider noch nicht einmal ansatzweise. Am Beispiel Biotopholz lässt sich das besonders gut nachvollziehen. Als Biotopholz werden alle Bäume bezeichnet, die für Waldtiere, Moose, Pilze und Flechten spezielle Lebensräume bieten. Da wären etwa die Horstbäume, in deren Kronen Greifvögel, aber auch Schwarzstörche und andere Arten gewaltige Nester bauen. Diese werden oft viele Jahre hintereinander genutzt. Ähnlich ist es mit Höhlenbäumen. Meist sind es Spechte, die den Anfang machen und ein Zuhause in den Stamm zimmern. Im Lauf der Jahre fault der Bau immer weiter aus und der Wohnraum wird größer. Andere Vogelarten, aber auch Fledermäuse und Käfer ziehen als Nachmieter ein. Allmählich entsteht eine Großhöhle, die Biologen ob ihrer Artenvielfalt begeistert.
Bricht eine Krone ganz ab, so bilden manche Exemplare eine Ersatzkrone. Teilweise blättert die Rinde am Stamm ab, weil die neuen, kleinen Äste mit ihren wenigen Blättern diese Masse nicht versorgen können. Die Mischung aus lebendem und totem Holz am Stamm ruft eine ganz eigene Lebensgemeinschaft von Pilzen und Käfern auf den Plan. Und dann wäre da noch das Totholz, wahres Gold, das Ökologen in Verzückung versetzt. Zu Recht, denn hier treten besonders viele gefährdete Arten auf. Abgestorbene Bäume werden im Wald allerdings selten toleriert. Einerseits stellen sie wunderbares Brennholz dar, das von der Natur bereits ofenfertig vorgetrocknet worden ist. Andererseits beleidigen sie das Auge des Wirtschafters, denn schließlich stehen diese unge nutzten, verfallenden Exemplare für ein Versagen des Försters, der die Bäume rechtzeitig vor ihrem endgültigen Ableben nutzen soll.
Es gibt eine Vielzahl verschiedener Biotopbäume, die alle ein großes Problem eint. Da sie nicht verwertet werden sollen, endet ihr Leben nicht mit der Motorsäge, sondern mit dem natürlichen Zerfall. Und das bedeutet, dass der Stamm irgendwann zu Boden stürzt. Was in der Natur ein millionenfacher selbstverständlicher Vorgang ist, wird für Waldarbeiter zur tödlichen Bedrohung. So kam vor wenigen Jahren im Westerwald ein Arbeiter ums Leben, als er eine Eiche fällte. 38 Diese war kerngesund, der Forstwirt hatte die Säge korrekt angesetzt und der Baum fiel in die angepeilte Richtung. Als der Stamm aufschlug, gab es im Waldboden eine starke Erschütterung, worauf ein zehn Meter entfernt stehender toter Stamm ebenfalls kippte – genau auf den Waldarbeiter. Da nützten kein Helm und keine Sicherheitsausrüstung, der Mann konnte nicht mehr gerettet werden.
In der Folge gingen die Förster wieder vermehrt dazu über, abgestorbene Bäume abzusägen, sicher ist sicher. Doch nun wurden die Rufe der Naturschützer lauter, mehr für die bedrohten Arten zu tun. Und schon erklärten sich die Landesforstverwaltungen vieler Länder bereit, zahlreiche Biotopbäume im Wald zu belassen. Pro Quadratkilometer sollen es zwischen 300 und 1 000 Exemplare sein. Diese dürfen weiterleben, während um sie herum weiter konventionell gewirtschaftet wird. Müssten da nicht alle zufrieden sein? Zumindest offiziell ist die Welt damit in Ordnung, aber ein Blick hinter die Kulissen zeigt den gigantischen Etikettenschwindel. Denn laut Unfallverhütungsvorschrift darf ein Waldarbeiter nur im Abstand einer Baumlänge von umsturzgefährdeten Exemplaren arbeiten. Das ist vernünftig, denn so befindet er sich jederzeit außerhalb der Gefahrenzone. Nun müsste man um jeden Biotopbaum, der langsam sein Leben aushaucht, eine Sperrzone von 30 bis 40 Metern ziehen, um der Vorschrift Genüge zu tun. Bei 1 000 Bäumen pro Quadratkilometer bedeutet das, dass dann niemand mehr den Wald betreten dürfte. Dieses Biotopbaumkonzept kann demnach nicht funktionieren, es sei denn, man riskiert fahrlässig Menschenleben. Als Lösung schlagen die Verantwortlichen vor, Biotopbaumgruppen zu bilden, also jeweils 15 bis 30 Exemplare zusammenzufassen, um dazwischen wieder genug ungefährlichen Arbeitsraum für die Mitarbeiter zu schaffen. Mit diesen Minireservaten müssten dann alle zufrieden sein. 39
Genau betrachtet ist dies ein erstes Eingeständnis der gescheiterten Integration. Natürliche Prozesse brauchen Platz und den gibt nur eine geschützte Fläche. Der letzte fehlende Schritt wäre, diese Gebiete ausreichend groß zu gestalten. Doch dagegen weh ren sich die Förster noch mit Händen und Füßen. Über 3 000 Quadratmeter,
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